Manuelle Routinetätigkeiten im Beruf machen vorgezogenen Ruhestand wahrscheinlicher
Eine Untersuchung der Ruhestandsmuster in Westdeutschland zwischen 1985 und 2005 zeigt, dass ein hoher Anteil (ab 30% der Arbeitszeit) manueller Routinetätigkeiten im Job das Risiko eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben erhöht. Demgegenüber verringert ein mittlerer (10-29%) oder hoher Prozentsatz nicht manueller Routinetätigkeiten sowie ein mittlerer bis hoher Anteil analytischer oder interaktiver Aufgaben die Wahrscheinlichkeit eines vorgezogenen Ruhestands.
Der demografische Wandel hat in vielen Ländern zu politischen Maßnahmen geführt, die einen vorgezogenen Ruhestand einschränken oder verhindern. In Deutschland wurden in den 1990er Jahren die Möglichkeiten zum vorgezogenen Renteneintritt eingeschränkt und mit Abschlägen belegt, in den 2000er Jahren die private Vorsorge gefördert. Die Reformen wurden öffentlich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Voraussetzungen zur Erreichung der Regelaltersgrenze diskutiert. Belegt ist, dass schwere körperliche Arbeit, Stress im Job und die emotionalen Anforderungen mancher Berufe sowie ein geringer Entscheidungsspielraum einen vorgezogenen Ruhestand begünstigen. Das Wissen über den Einfluss des Arbeitsinhalts auf den Zeitpunkt des Ruhestandsübergangs ist jedoch begrenzt.
Antje Mertens von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und Laura Romeu Gordo vom Deutschen Zentrum für Altersfragen untersuchten deshalb den Einfluss unterschiedlicher Tätigkeitsmerkmale auf das Ruhestands-Timing von Erwerbstätigen zwischen 50 und 65 Jahren. Diese waren dabei in Westdeutschland mindestens 15 Stunden pro Woche sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der von ihnen analysierte Zeitraum von 1985-2005 war sowohl von Reformen in der Alterssicherung, als auch vom schnellen technologischen Wandel geprägt. Während repetitive Tätigkeiten zunehmend automatisiert wurden, stieg die Nachfrage nach nicht routinemäßigen Tätigkeiten. Dabei beeinflusste der technologische Wandel Branchen und Berufe unterschiedlich.
Vielfach wird in Analysen der ausgeübte Beruf als Einflussfaktor auf den Ruhestandsbeginn herangezogen. Jedoch kann es innerhalb eines Berufes unter den auszuübenden Tätigkeiten große Unterschiede geben: Aufgaben im Beruf verändern sich und auch die Anforderungen an diesen können variieren. Für ihre Studie zogen die Wissenschaftlerinnen Daten der Repräsentativbefragungen von Erwerbstätigen in Deutschland zu Arbeit und Beruf im Wandel und Erwerb (BIBB/IAB-Erhebungen) und der Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiografien (SIAB) heran. Diese Datenbasis liefert detaillierte Informationen zu den ausgeübten Tätigkeiten im Zeitverlauf und ermöglicht so eine differenzierte Analyse.
Dabei wurden folgende fünf Tätigkeitskategorien unterschieden:
- manuelle Routinetätigkeiten wie bspw. Bedienung und Kontrolle von Maschinen, Lagerarbeiten, Herstellen, Produzieren von Waren und Gütern
- kognitive Routinetätigkeiten wie bspw. typische Büro- und Verwaltungstätigkeiten, Messen, Prüfen, Qualitätskontrolle
- manuelle Nicht-Routinetätigkeiten wie bspw. Schreinerarbeiten, Reinigungsarbeiten, Kochen, Pflegen, Betreuen, Reparieren und Instandsetzen
- analytische Nicht-Routinetätigkeiten wie bspw. Planungsaufgaben, Informationen sammeln, Recherchieren, Forschung, Programmierung
- interaktive Nicht-Routinetätigkeiten wie bspw. Personalmanagement, Ausbilden, Lehren, Unterrichten, Erziehen, Werben, Marketing, Öffentlichkeitsarbeit, PR.
Abnahme des Anteils manueller Routinetätigkeiten im Beobachtungszeitraum
Die Studie spiegelt den technologischen Wandel in der Arbeitswelt wider. Routinetätigkeiten, manuelle als auch kognitive, waren sowohl 1985 als auch 1991 vorherrschend. Die Erwerbstätigen verbrachten im Durchschnitt 50% ihrer Arbeitszeit damit. Ein deutlicher Wandel setzte in den Nachfolgejahren ein. Im Jahr 1998 verbrachten männliche Erwerbstätige etwa 25% ihrer Arbeitszeit mit Routinetätigkeiten, Frauen sogar nur 15%.
Vorzeitiger Ruhestand und Tätigkeitsmerkmale im Beobachtungszeitraum
Erwerbstätige, deren Jobs mindestens 30% analytische (Nichtroutine-) Tätigkeiten umfassten, waren im Alter zwischen 60 und 65 Jahren häufiger noch berufstätig als diejenigen mit weniger als 30% dieser Aufgaben. Auch Erwerbstätige, deren Arbeitszeit mindestens 30% interaktive Nichtroutinetätigkeiten umfasste, waren länger erwerbstätig. Die Unterschiede betrugen bis zu 10 Prozentpunkte innerhalb einer betrachteten Altersstufe und wurden zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr deutlich.
Mithilfe multivarianter Analysen wurden die oben angeführten Befunde auf ihren Einfluss auf das Ruhestandsverhalten untersucht. Dabei zeigte sich: Sowohl ein hoher Anteil an analytischen/kognitiven als auch an interaktiven Nicht-Routinetätigkeiten reduzierten die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Ruhestands. Auch geistige Routinetätigkeiten, wie sie typischerweise von Angestellten mit mittlerer Qualifikation ausgeübt werden, reduzierten das Risiko. Die multivariante Analyse erbrachte kein erhöhtes Risiko für manuelle Jobs ohne große Routineanteile: Ein mittlerer bis hoher Anteil dieser Tätigkeiten führte sogar zu einem 10-18 % reduziertem Risiko für den vorgezogenen Ruhestand. Das höchste Risiko trugen Erwerbstätige mit einem hohen Anteil manueller Routinetätigkeiten im Job.
Weitere Einflussfaktoren auf die Wahrscheinlichkeit eines vorgezogenen Ruhestands waren das Ausbildungsniveau, das Geschlecht, das Alter, Zeiten von Arbeitslosigkeit, die Opportunitätskosten, die Arbeitszeit, die Betriebsgröße und der Wirtschaftssektor.
Handlungsfelder
Die Untersuchung zeigt, dass ein hoher Anteil repetitiver manueller Tätigkeiten im Job mit einer größeren Wahrscheinlichkeit eines vorgezogenen Ruhestands einhergeht. Für diejenigen, die lange genug gearbeitet haben, um ohne nennenswerte Einbußen ihrer Renten in den Ruhestand zu wechseln, mag das unproblematisch sein. Aber Erwerbstätige mit unterbrochenen Berufsbiografien werden typischerweise mit beachtlichen Verlusten durch einen vorgezogenen Ruhestand konfrontiert, selbst wenn es branchenspezifische Regelungen zur Abfederung gibt. Vor dem Hintergrund des technologischen Wandels mit einer größeren Nachfrage nach qualifizierten und Nicht-Routinetätigkeiten muss dafür Sorge getragen werden, dass nicht ein Teil der Erwerbstätigen Gefahr läuft, auch noch gegen Ende des Berufslebens überwiegend oder ausschließlich mit Routineaufgaben beschäftigt zu sein oder mit finanziellen Anreizen aus dem Erwerbsleben gelockt zu werden – mit Nachteilen für ihre Alterssicherung. Mithilfe von Weiterbildungsprogrammen sollte dem technologischen Wandel Rechnung getragen und jene Qualifikationen und Fähigkeiten vermittelt werden, die nötig sind, um neue Aufgaben zu übernehmen und so ein Erwerbsleben bis zum gesetzlichen Rentenalter zu ermöglichen.