Soziale Gerechtigkeit in Europa: Aufschwung am Arbeitsmarkt kommt nicht bei allen Menschen an
Angetrieben von einer Erholung auf dem Arbeitsmarkt, haben sich die Teilhabechancen der EU-Bürger erstmals seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 leicht verbessert. Doch davon profitieren nicht alle. Das Armutsrisiko verharrt in vielen Ländern auf hohem Niveau. Kinder und Jugendliche in Südeuropa leiden noch immer am stärksten unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise.
Europa erholt sich langsam von der Wirtschafts- und Finanzkrise. Grund ist ein Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt. Im Vergleich zum Höhepunkt der Krise im Jahr 2013 sind wieder deutlich mehr Menschen erwerbstätig. Dennoch ist der Anteil sogenannter »working poor« – Menschen, die trotz Vollzeitjob von Armut bedroht sind – gestiegen. Dazu kommt: Besonders Kinder und Jugendliche profitieren zu wenig von der wirtschaftlichen Erholung. In Deutschland bleibt das Armutsrisiko für Vollzeitbeschäftigte trotz Wirtschaftsboom stabil. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren des Social Justice Index 2016 der Bertelsmann Stiftung. Mit dem Index werden seit 2008 jährlich die sozialen und wirtschaftlichen Teilhabechancen für Menschen in allen 28 EU-Staaten gemessen.
Dass der EU-weite Negativtrend der letzten Jahre in Sachen Teilhabechancen vorerst gestoppt scheint, liegt in erster Linie an der Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt. Fast zwei Drittel der EU-Bürger (215,7 Millionen Menschen) waren 2015 erwerbstätig (65,6 Prozent); eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr (64,8 Prozent). Zugleich ging die Arbeitslosenquote von 10,4 Prozent (2014) auf 9,6 Prozent (2015) zurück. Dennoch liegt die Arbeitslosigkeit in Europa immer noch über dem Vorkrisenniveau (7,1 Prozent im Jahr 2008). Gleiches gilt für die Jugendarbeitslosigkeit: EU-weit sind noch immer 4,6 Millionen Jugendliche (20,4 Prozent) arbeitslos (2014: 22,2 Prozent). 2008 waren es lediglich 15,6 Prozent (4,2 Millionen Jugendliche).
Europa paradox: armutsgefährdet trotz Job
Der Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt geht jedoch nicht einher mit einem deutlich sinkenden Armutsrisiko. Noch immer ist fast jeder vierte EU-Bürger (118 Millionen Menschen oder 23,7 Prozent) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. 2014 war dieser Wert nur geringfügig höher (24,4 Prozent). Besonders hoch sind die Werte im Süden und Südosten Europas: In Griechenland (35,7 Prozent der Menschen), Rumänien (37,3 Prozent) und Bulgarien (41,3 Prozent) erreicht das Armuts- und Exklusionsrisiko weiterhin systemische Ausmaße. In Tschechien (14 Prozent), Schweden (16 Prozent), Finnland (16,8 Prozent) und den Niederlanden (16,8 Prozent) ist das Armutsrisiko hingegen am niedrigsten.
Laut Studienautoren ist auffällig, dass die Anzahl der Menschen weiter steigt, die zwar voll erwerbstätig, aber dennoch von Armut bedroht sind. 7,8 Prozent der Vollzeitbeschäftigten waren 2015 in der EU von Armut bedroht. 2013 waren es noch 7,2 Prozent. Gründe dafür sind unter anderem ein wachsender Niedriglohnsektor und eine Spaltung der Arbeitsmärkte in reguläre und atypische Formen von Beschäftigung. Der Anstieg der Gruppe sogenannter »working poor« ist laut Studienautoren besorgniserregend, da die betroffenen Menschen von einer vollwertigen gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. »Ein Vollzeitjob muss nicht nur das Einkommen, sondern auch das Auskommen sichern. Ein steigender Anteil von Menschen, die dauerhaft nicht von ihrer Arbeit leben können, untergräbt die Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung«, sagt Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung.
Junge Menschen in Südeuropa haben die geringsten Teilhabechancen
In allen 28 EU-Ländern sind die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen noch immer deutlich schlechter ausgeprägt als vor der Krise. EU-weit sind 25,2 Millionen (26,9 Prozent) Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. In den Krisenländern Griechenland, Italien, Spanien, Portugal sind diese Werte sogar noch höher: Hier ist im Schnitt jedes dritte Kind (33,8 Prozent) von Armut bedroht. In diesen vier Ländern sind damit mehr als 1 Million Kinder und Jugendliche mehr von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht als noch 2008. Besonders dramatisch bleibt die Situation für junge Menschen in Griechenland. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die von schwerwiegender materieller Entbehrung betroffen sind, hat sich dort erneut erhöht – auf inzwischen 25,7 Prozent (2008: 10,4 Prozent). Die südlichen EU-Länder haben zusätzlich mit dem Problem eines hohen Anteils sogenannter NEETs (Not in Education, Employment or Training) zu kämpfen. Diese Jugendlichen (Alter: 20-24 Jahre) leben komplett außerhalb von Job und Ausbildung und haben somit kaum Chancen auf einen sozialen Aufstieg. In Italien gehören fast ein Drittel der Jugendlichen (31,1 Prozent) dazu. In Griechenland (26,1 Prozent) und Spanien (22,2 Prozent) sind die Werte ebenfalls deutlich über dem EU-Durchschnitt (17,3 Prozent).
Der Index verdeutlicht auch die wachsende Kluft zwischen Jung und Alt. EU-weit sind weit mehr Kinder von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen als ältere Menschen (26,9 Prozent zu 17,4 Prozent). Während fast jedes zehnte Kind in der EU (9,5 Prozent) schwerwiegende materielle Entbehrungen ertragen muss, sind es bei den über 65-Jährigen 5,5 Prozent. Der Anteil älterer Menschen, die von Armut oder sozialer Exklusion bedroht sind, hat sich von 24,4 Prozent im Jahr 2007 auf zuletzt 17,4 Prozent (2015) verringert.
Aart De Geus sieht in der Situation abgehängter Jugendlicher eine Gefahr für die Zukunft der Gesellschaft: »Die wachsende Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen spielt den erstarkenden populistischen Bewegungen in die Hände. Wir dürfen nicht riskieren, dass sich die Jugend enttäuscht und frustriert aus der Gesellschaft zurückzieht«.
Trotz guter Werte: Deutschland schöpft sein Potenzial nicht aus
Deutschland ist vor allem dank seines robusten Arbeitsmarkts vergleichsweise gut aufgestellt und kommt im Gerechtigkeitsindex wie im Vorjahr auf Rang sieben. Deutschland hat europaweit zum Beispiel die niedrigste Jugendarbeitslosenquote (7,2 Prozent). Problematisch sehen die Autoren dennoch das nach wie vor hohe Armutsrisiko sowie Probleme bei der sozialen Durchlässigkeit im Bildungssystem. Auch der EU-weite Trend eines gestiegenen Armutsrisikos trotz Vollzeitjob lässt sich in Deutschland feststellen: Ungeachtet der starken Wirtschaftsentwicklung ist der Anteil der von Armut bedrohten Vollzeitbeschäftigten von 5,1 Prozent im Jahr 2009 auf 7,1 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Eine leichte Abnahme gegenüber dem Vorjahr (2014: 7,5%) deutet jedoch auch bereits auf erste Wirkungen der Einführung des Mindestlohns im Jahre 2015 hin.
Hintergrund
Mit dem EU-Gerechtigkeitsindex untersucht die Bertelsmann Stiftung jährlich anhand von 36 Kriterien die Teilhabechancen in den 28 EU-Mitgliedstaaten. Hierbei werden sechs verschiedene Dimensionen sozialer Gerechtigkeit betrachtet: Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit, Generationengerechtigkeit sowie gesellschaftlicher Zusammenhalt und Nicht-Diskriminierung. Der Social Justice Index 2016 berücksichtigt international verfügbare Eurostat-Daten bis zum 27. Oktober 2016.