Neue digitale Arbeitsorganisation im Büro: Zwischen »Empowerment« und »digitalem Fließband«
Forscher: »Arbeitswelt am Scheideweg«
Der digitale Umbruch trifft nicht nur die Beschäftigten in der Produktion, sondern auch die Angestellten in Entwicklung und Verwaltung. Welche neuen Formen der Arbeitsorganisation dabei entstehen und welche Folgen dies für die Beschäftigten hat, haben Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erforscht. Ihr Fazit: Die Arbeitswelt steht an einem Scheideweg. Einerseits droht unter den Stichworten »lean« und »agil« die Organisation von Kopfarbeit an einem »digitalen Fließband«, andererseits zeichnen sich neue Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung und ein »Empowerment« der Beschäftigten ab. Gefragt ist nach Analyse der Forscher eine zielgerichtete Gestaltung des Wandels unter Beteiligung der Beschäftigten und der betrieblichen Mitbestimmung.
»Die Übertragung von Lean-Konzepten aus der Fertigung und der Einsatz von agilen Methoden aus der Software-Entwicklung sind zu einem neuen strategischen Trend in den Angestelltenbereichen geworden«, erklärt PD Dr. Andreas Boes, Vorstandsmitglied am ISF. Sein Forschungsteam hat in Betriebsfallstudien beide Entwicklungen untersucht und dafür mehr als 200 Interviews geführt (mehr Informationen zur Methode unten). Deutlich wird: Es zeichnet sich eine grundlegende Wende in der Organisation von Arbeit und Wertschöpfung in den Büros der Angestellten ab.
Die Software-Industrie steht exemplarisch für diese Entwicklung. Agile Methoden, vor allem »Scrum«, kommen hier schon länger zum Einsatz und ersetzen das bürokratisch organisierte Wasserfallmodell mit seinen langen Planungs- und Projektlaufzeiten. Das heißt: Software wird nicht mehr auf Basis eines festgelegten Lastenhefts als Gesamtprodukt entwickelt, sondern in einzelne Teile zerlegt, die in kurzzyklischen Takten von zwei bis vier Wochen fertiggestellt und integriert werden. Das »Scrum-Team« kann seine Arbeitslast dabei selbst bestimmen. Die Teammitglieder legen in täglichen Treffen ihr Wissen und den aktuellen Stand ihrer Arbeit offen.
Standardisierung, zeitliche Taktung, maximale Transparenz
In Kombination mit Methoden des Lean-Managements wird es so möglich, selbst große Entwicklungsabteilungen mit mehreren Tausend Entwicklern synchronisiert in einem einheitlichen Takt »schwingen« zu lassen. »Wir haben es hier mit einem neuen industrialisierten Entwicklungsmodell zu tun, das sich in der Softwareindustrie flächendeckend durchsetzt und zunehmend auch in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen klassischer Industrie-Unternehmen zum Einsatz kommt«, betont Boes. Das Prinzip, auch Kopfarbeit zu standardisieren, einer zeitlichen Taktung zu unterwerfen und sowohl das Expertenwissen als auch die individuellen Arbeitsergebnisse für alle transparent zu machen, verfolgen mittlerweile immer mehr Unternehmen. So experimentieren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen im Maschinenbau oder der Automobilindustrie einerseits mit agilen Methoden, andererseits mit Elementen »Ganzheitlicher Produktionssysteme« (GPS), die bislang nur in der Fertigung zum Einsatz kamen.
Der Wandel macht auch vor den Verwaltungsbereichen nicht Halt. Die Arbeit in den Personal- und Finanzabteilungen oder im Vertrieb werde »immer standardisierter und prozessorientierter«, konstatieren die ISF-Experten. Der konkrete Arbeitsgegenstand, zum Beispiel eine Reisekostenabrechnung oder eine Bestellung, wird hier digitalisiert und in den »Workflow« eingespeist; so genannte Ticket-Systeme versorgen den Einzelnen, »wie an einem Fließband«, kontinuierlich mit Aufträgen. Komplementär dazu werden auch hier einzelne Elemente der GPS auf die Büros übertragen. Insbesondere das »Shopfloor-Management« und Kennzahlen sorgen für einen transparenten Arbeitsprozess in den Angestelltenbereichen.
Stress, weil alle vier Wochen »irgendwas gezeigt werden muss«
Dass ihre Arbeit, mit dem Ziel mehr Effizienz und gleichzeitig weniger Kosten zu erzeugen, zunehmend rationalisiert und messbar wird, geht an den Beschäftigten nicht spurlos vorüber. Die intensive Teamarbeit, der Wissensaustausch und die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen stoßen zwar durchaus auf Zustimmung. Betroffene berichten jedoch auch von permanentem Stress, einem Gefühl, unter ständigem Rechtfertigungsdruck zu stehen und keinen Einfluss mehr auf die eigenen Arbeitsabläufe zu haben. Man komme »sich so ein bisschen vor wie jemand, der am Fließband steht und nur kleine Teile entwickelt«, schildert ein Beschäftigter aus der Software-Entwicklung in der Studie. Ein anderer berichtet von »Dauerstress«, weil alle vier Wochen »irgendwas gezeigt werden muss«.
»Die Reaktionen der Beschäftigten zeigen, dass es dringenden Handlungs- und Gestaltungsbedarf durch Politik und Gesellschaft gibt«, erklärt Arbeitsforscher Boes. Gegenwärtig stünde die Arbeitswelt an einem Scheideweg zwischen Konzepten, die Kopfarbeit wie am Fließband organisierten und Strategien, die darauf setzten, das Teams und Beschäftigte in die Lage versetzt würden, selbstständig zu agieren, kollektiv zu lernen und in Eigenverantwortung Innovationen zu generieren. »Das Empowerment und die Handlungsfähigkeit der Menschen zu stärken ist aus unserer Sicht die zentrale Leitorientierung für eine erfolgreiche Gestaltung der digitalen Arbeitswelt«, betont Boes.
Hintergrund
Das Forschungsprojekt wurde von 2013 bis 2016 von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert und am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München) durchgeführt. Im Fokus der Studie stehen die Felder Software-Entwicklung, industrielle Forschung und Entwick¬lung sowie Verwaltung. Ihre empirische Basis bilden 13 Kurzfallstudien auf der Grundlage von 38 explorativen Experteninterviews sowie sechs Intensivfallstudien mit insgesamt 190 Beschäftigteninterviews und Gesprächen mit Managern und Betriebsräten. Die im Rahmen des Projekts untersuchten Unternehmen kommen aus den Bereichen IT, Automotive, Maschinenbau und Elektrotechnik.
VERWEISE