Inklusion: Besser als die Wirklichkeit?
BGW präsentiert Studie zur Medienberichterstattung über Inklusion im Arbeitsleben
Seit über acht Jahren gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie zielt auf die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - auch am Arbeitsleben. Die Realität ist davon noch weit entfernt. Gleichzeitig erfährt die Bevölkerung zum Thema berufliche Inklusion bislang kaum etwas in den Medien. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung, die die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in Auftrag gegeben hat. Die Studie wurde nun im Rahmen des Fachkongresses »BGW forum 2017 - Gesundheitsschutz in der Behindertenhilfe« in Hamburg vorgestellt.
Menschen mit schweren Behinderungen unter der Wahrnehmungsschwelle in den Leitmedien
Obwohl fast zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland leben, davon 7,6 Millionen mit schweren Beeinträchtigungen, spielen diese in deutschen Leitmedien kaum eine Rolle. Die Auswertung von mehr als 1,2 Millionen Beiträgen aus TV- und Radio-Nachrichten, Wochenmedien und ausgewählten Tageszeitungen im Zeitraum 2012 bis 2016 durch das Schweizer Medienforschungsinstitut Media Tenor International zeigt: Es müsste mindestens zehnmal mehr über Menschen mit schweren Behinderungen berichtet werden, damit ein relevanter Anteil der Bevölkerung wüsste, wie es tatsächlich um ihre Lage bestellt ist.
Arbeitsleben kaum im Fokus
Wenn in den vergangenen Jahren über Menschen mit Behinderungen berichtet wurde, ging es am ehesten um Behindertenpolitik, Sport oder Gesundheit. Auch die Frage der Inklusion in Schulen wurde deutlich häufiger thematisiert als die Teilhabe am Berufsleben. Dabei sind hierzulande über eine Million Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt tätig. Insgesamt leben in Deutschland etwa drei Millionen Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter: Sie stellen damit eine ebenso große Gruppe dar wie alle Beschäftigten im Einzelhandel - und eine dreimal so große wie die der Bankmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.
Positives Medienbild trotz anhaltender Probleme am Arbeitsmarkt
Während die Medien im Allgemeinen häufig Unternehmen kritisieren, zeichneten die analysierten Beiträge im Zusammenhang mit der beruflichen Teilhabe fast durchgängig ein positives Bild von ihnen. Das gleiche gilt für die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In der Realität stellt sich die Arbeitsmarktlage für Menschen mit schweren Behinderungen dagegen deutlich schwieriger dar. So wurde exklusiv für die Studie ermittelt, wie es um die Pflichtbeschäftigungsquote bei den größten börsennotierten Firmen, den DAX30-Unternehmen, bestellt ist: Bislang erreicht weniger als die Hälfte von ihnen die Pflichtbeschäftigungsquote. Gleichzeitig sind Menschen mit schweren Behinderungen immer noch doppelt so häufig arbeitslos wie andere.
Stereotypen und falsche Sprachbilder
Ferner ergab die Analyse, dass die Mediendarstellung von Menschen mit Behinderungen selbst teilweise noch stark von der Selbstwahrnehmung dieser Gruppe abweicht. So entstanden in der Medienberichterstattung häufig Bilder von »Heldinnen« oder »Helden«, die ihr Schicksal »trotz Behinderung« meistern - oder von »Opfern«, die vermeintlich das Mitleid der Gesellschaft benötigen. Damit einher gingen unpassende und falsche Sprachbilder. Beispielsweise findet sich oftmals die Formulierung »an den Rollstuhl gefesselt«: Allerdings ist der Rollstuhl für viele Menschen mit Behinderungen keine Fessel, sondern ein wichtiges Hilfsmittel zur Teilhabe.
Fachleute empfehlen mehr Berichterstattung und Transparenz
Angesichts der Studienergebnisse empfiehlt das Medienforschungsteam eine häufigere und professionellere Berichterstattung - sowie seitens der Unternehmen transparentere Auskunft, wo sie stehen, was gut gelingt, was weniger gut gelingt und wo weitere Unterstützung nötig ist. Transparenz über die tatsächlichen Anforderungen zur Einrichtung von Stellen für Menschen mit Beeinträchtigungen könne unter anderem die Sorge von Betrieben vor Hemmnissen in der Umsetzung lindern und ihnen helfen, gezielt Menschen mit Beeinträchtigungen zu rekrutieren. Das gelte auch für den inzwischen in vielen Bereichen spürbaren Mangel an Fachkräften in Deutschland. Ebenso seien die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Integrations- oder Inklusionsbetriebe stärker gefragt, ihre besondere Expertise bei Menschen mit schweren Beeinträchtigungen transparent zu machen.
BGW plädiert für differenziertes und kraftvolles Bild in den Medien
Auch die BGW möchte mit der Studie die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen voranbringen. »Gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe auch am Arbeitsleben ist ein Menschenrecht«, erklärt ihr Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Stephan Brandenburg. »Wir unterstützen unsere Mitgliedsbetriebe mit einem breiten Angebot, damit sie Inklusion in all ihren Aspekten langfristig bei sich verankern können. Zur Erreichung echter Teilhabe liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns - ein differenziertes und kraftvolles Bild in den Medien würde helfen, Verbesserungen voranzubringen«, so Brandenburg. »Vielfalt sollte auch im Arbeitsleben als Bereicherung begriffen werden und Fachkräfte die ihnen gebührende Anerkennung erhalten«.
Buch zur Studie
Die detaillierten Ergebnisse der Medienstudie sind als Buch veröffentlicht: Matthias Vollbracht, »Besser als die Wirklichkeit? Berufliche Inklusion im Spiegel der Medien«, ISBN 978-3-906501-24-6. Die BGW gibt die Publikation, solange der Vorrat reicht, kostenfrei ab. Bestellanfragen nimmt sie unter der E-Mail-Adresse medienstudie@bgw-online.de entgegen.
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