Junge Europäer für mehr Integration und politische Teilhabe in Europa
Junge Europäer sehen sich im Europäischen Parlament nicht ausreichend repräsentiert, betrachten die Europawahl als Wahl zweiter Klasse - und trotzdem fühlen sie sich Europa sehr verbunden.
»In allen befragten EU-Ländern würden bei einem Referendum mindestens 60 Prozent der 16 bis 26jährigen für den Verbleib in der EU stimmen. Spanien steht mit 79 Prozent an der Spitze. Die Zustimmung zu Europa ist gerade unter jungen Europäerinnen und Europäern hoch. Diese positive Grundhaltung ist ermutigend. Sie sollte Ansporn sein, den Dialog mit den jungen Europäerinnen und Europäern zu intensivieren, ihre Fragen, Themen und Kritik ernstzunehmen. Dann kann aus Zustimmung Begeisterung für Europa werden«, sagt Thomas Ellerbeck, Vorsitzender des Kuratoriums der TUI Stiftung.
Mit Blick auf die nächste Legislaturperiode des Europäischen Parlaments haben Jugendliche aus zehn EU-Ländern und Norwegen die Umweltpolitik als eine der wichtigsten zu lösenden Herausforderungen innerhalb der EU benannt. Das Thema landete auf Platz zwei, noch wichtiger für sie ist Migration und Asyl, auf Platz drei steht die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das Topthema Umwelt ist für sie eines mit Zukunft: »Junge Menschen sehen Klimaschutz eher als Chance denn als Bedrohung«, erklärte Ellerbeck.
Die Zustimmung zur EU ist seit 2017 stetig gewachsen und bleibt auch in diesem Jahr hoch. Sie reicht 2019 von 61 Prozent in Italien und Schweden bis 79 Prozent in Spanien. In Großbritannien, Griechenland und Polen steigt die Präferenz für die EU-Mitgliedschaft seit 2017 kontinuierlich an. In Frankreich, Spanien und Italien ist die Zustimmungsquote nach einem Hoch im Jahr 2018 hingegen wieder rückläufig. Dies gilt auch für Deutschland: So waren 69 Prozent der jungen Befragten in 2017 für den Verbleib des Landes in der EU, in 2018 sogar 80 Prozent und 74 Prozent in 2019.
»Die Zahlen zeigen: Europa ist kein Selbstläufer und seine Bedeutung muss kontinuierlich erklärt werden. Das sollten Politiker wie EU-Beamte im Blick haben und ernstnehmen. Es muss gelingen, die Bedürfnisse junger Menschen besser in die politische Agenda zu integrieren« sagte Elke Hlawatschek, Geschäftsführerin der TUI Stiftung, bei der Präsentation der Studie in Berlin.
Jeder fünfte junge Europäer war innerhalb von zwölf Monaten auf Demonstrationen
Jeder fünfte junge Europäer hat in den vergangenen zwölf Monaten an einer Demonstration teilgenommen (22 Prozent, in Deutschland 18 Prozent). In etwa genauso hoch ist der Anteil junger Menschen, der auf Produkte aus politischen oder ethischen Gründen verzichtet beziehungsweise sie gerade deswegen konsumiert hat (28 Prozent, in Deutschland 33 Prozent). Das Thema Umweltschutz treibt die Jugendlichen am meisten an: 43 Prozent von ihnen waren dazu in den letzten zwölf Monaten politisch aktiv (in Deutschland 41 Prozent). Auch die Diskussionen um Lohngleichheit und Geschlechtergerechtigkeit hat die politische Aktivität junger Menschen offenbar befördert: Auf Platz zwei der Themenbereiche, in denen sie politisch aktiv waren, steht die Gleichberechtigung (40 Prozent, in Deutschland 32 Prozent).
Neben Möglichkeiten zur politischen Partizipation, die offline stattfinden, hat die Studie auch Formen der Online-Partizipation abgefragt. Es zeigt sich, dass politisches Engagement junger Menschen häufiger online oder in einem Mix aus online und offline stattfindet. Hierzu zählt beispielsweise das »Liken« politischer Beiträge in sozialen Medien, was 49 Prozent der Befragten in den vergangenen zwölf Monaten getan haben. Weitere oft genannte Aktivitäten sind die Beteiligung an Online-Petitionen (42 Prozent) sowie das Teilen politischer Beiträge anderer Personen in sozialen Medien (31 Prozent).
Klimaschutz und Umweltpolitik für junge Menschen eher Chance als Bedrohung
Klimaschutz und Umweltpolitik sehen die jungen Menschen in der EU mehrheitlich (55 Prozent) eher als Chance denn als Bedrohung für ihr persönliches Leben. »Wir sehen hier eine Generation, die Klimaschutz und Umweltpolitik nicht mehr nur als notwendiges Übel betrachtet, sondern als selbstverständlichen Teil der politischen Agenda«, sagt Hlawatschek.
Gespalten sind junge Europäer bei dem Thema Einwanderung und Migration: Rund ein Drittel sehen es als Chance für ihr eigenen Leben, ein Drittel als Bedrohung, ein Drittel weiß es nicht genau. Das Thema »Asyl und Migration« wird zudem von der Hälfte der Befragten als das gegenwärtig wichtigste Problem in der EU genannt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass offene Grenzen abgelehnt werden: 43 Prozent der Befragten, die »Asyl und Migration« als wichtigstes Problem nennen, betrachten offene Grenzen innerhalb der EU als Chance, nur 27 Prozent als Bedrohung. Die Freizügigkeit innerhalb der EU wird überwiegend positiv bewertet und steht für junge Menschen nicht zur Diskussion.
In Deutschland verhält sich die Gewichtung etwas anders als im Gesamtbild: Für junge Deutsche kommt mit Blick auf die wichtigsten politischen Probleme der EU - nach Migration/Asyl (55 Prozent) und Umweltpolitik/Tierschutz (35 Prozent) - auf Platz drei die Sozialpolitik (25 Prozent). In keinem anderem Land wurde Sozialpolitik von so vielen jungen Menschen als wichtig für die EU benannt.
Digitalisierung - ein deutsches Problem
Auch die Digitalisierung wird als Chance (45 Prozent) für das eigene Leben wahrgenommen. Nur sechs Prozent der jungen Europäer zählen die Digitalisierung zu den wichtigsten politischen Problemen der EU. Am wichtigsten im europäischen Vergleich ist das Thema den jungen Deutschen. 15 Prozent von ihnen sagen, dass Digitalisierung zu den wichtigen Themen der EU gehört (in Frankreich hingegen nur zwei Prozent). Auch auf die Frage, was die wichtigsten zu lösenden Herausforderungen im eigenen Land sind, nennen die Deutschen häufiger (23 Prozent) als in allen anderen befragten Ländern die Digitalisierung.
Europawahl für junge Europäer nur eine Wahl zweiter Klasse
Die Europawahlen sind für junge Menschen »Wahlen zweiter Klasse«: Nur 50 Prozent von ihnen finden die Wahl des Europa-Parlaments »wichtig« (in Deutschland 56 Prozent). 73 Prozent finden hingegen die Wahl zum nationalen Parlament »wichtig« (in Deutschland 74 Prozent). Dabei wollen 38 Prozent aller Befragten (in Deutschland 54 Prozent) »mehr« Europa und wünschen sich, dass die EU-Mitgliedsländer stärker zusammenwachsen. Doch nur 23 Prozent (in Deutschland 21 Prozent) glauben, dass dies in fünf Jahren tatsächlich passieren wird. »Der Wunsch nach einem stärkeren Zusammenrücken der europäischen Länder ist deutlich vorhanden. Allein der Glaube daran fehlt. Diese Generation ist der natürliche Verbündete all jener, die an das politische Projekt Europa glauben«, kommentiert Elke Hlawatschek.
Zehn Prozent der jungen Deutschen nicht sicher, ob sie zur Europawahl wahlberechtig sind
In Deutschland geben 64 Prozent der Befragten an, für die anstehende Europawahl wahlberechtigt zu sein, zehn Prozent sind sich nicht sicher. Die Hälfte der Befragten in Deutschland (53 Prozent) antwortet auf die Frage, wie wahrscheinlich es sei, dass sie wählen gehen mit »bestimmt«, 22 Prozent mit »wahrscheinlich«. Nur vier Prozent antworten mit »bestimmt nicht« (sechs Prozent mit »wahrscheinlich nicht« und 13 Prozent mit »vielleicht«).
»In der Vergangenheit lag die Wahlbeteiligung junger Erwachsener in der Regel unter der der Gesamtbevölkerung und dieser Abstand vergrößert sich. Einer der Gründe hierfür sind sich ändernde Staatsbürgernormen. Wählen wird von jungen Menschen weniger als Pflicht verstanden. Vor allem scheinen aber die traditionellen, konventionellen Beteiligungsformen den Jungen nicht immer attraktiv genug und die politischen Parteien und das politische System wenig responsiv«, sagt Marcus Spittler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), der die Studie wissenschaftlich begleitet hat. »In der Jugendstudie stimmen 45 Prozent der Aussage zu, dass sie sich in der Lage fühlen, wichtige politische Fragen gut bis sehr gut zu verstehen und einschätzen können. Gleichzeitig glauben nur 17 Prozent, dass Politiker sich auch darum kümmern, was die Leute denken«, so Spittler weiter.
Skepsis bezüglich der Wirksamkeit repräsentativer Demokratie
Etwas mehr als die Hälfte (58 Prozent) der jungen Menschen ist von der Demokratie als beste Staatsform überzeugt. Besonders stark ausgeprägt ist die Zustimmung zur Demokratie in Griechenland (73 Prozent), Deutschland und Schweden (jeweils 66 Prozent) sowie Dänemark (65 Prozent). Sehr niedrig fallen die Zustimmungswerte in Frankreich (38 Prozent), Italien und Polen (jeweils 46 Prozent) aus. Nur eine Minderheit (sechs Prozent) junger Menschen hält andere Staatsformen als die Demokratie für besser.
Fragt man junge Menschen, wie sie sich im nationalen Parlament und Europaparlament vertreten fühlen, zeigt sich ein einheitliches Bild. Stets fühlen sie sich von den nationalen Parlamenten besser repräsentiert (30 Prozent fühlen sich »sehr stark« oder »stark« vertreten) als vom Europarlament (20 Prozent). Am stärksten fühlen sich junge Europäer in Schweden (45 Prozent), Dänemark (40 Prozent) und Polen sowie Italien (jeweils 35 Prozent) in ihrem nationalen Parlament vertreten. Deutschland liegt mit 24 Prozent eher im Mittelfeld. Junge Italiener (29 Prozent), Dänen (28 Prozent) und Polen (27 Prozent) fühlen sich im europäischen Vergleich am stärksten vom Europaparlament vertreten. In Deutschland sind es 18 Prozent der jungen Menschen, die sich vom Europaparlament »stark« oder »sehr stark« repräsentiert fühlen.
Nur 18 Prozent der befragten jungen Europäer stimmen der Aussage zu, dass Politikerinnen und Politiker sich um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühen. Den niedrigsten Wert haben hier Deutschland und Spanien mit zwölf Prozent, die höchsten Werte die nordischen Länder wie Norwegen mit 27 Prozent und Schweden mit 25 Prozent. Ein weiterer Aspekt für die Wirksamkeit der Demokratie wird eher negativ bewertet: Nur 17 Prozent der jungen Menschen stimmen der Aussage zu, dass sich die Politiker darum kümmern, »was einfache Leute denken« (Deutschland zwölf Prozent, Griechenland acht Prozent).
»Charta of Young Europe«
Ein »Amt für Würde« für Europa ! Parallel zur Befragung von mehr als 8000 jungen Europäerinnen und Europäern für die Jugendstudie hat die TUI Stiftung gemeinsam mit dem unanhängigen Think-Tank iRights.Lab das Projekt »Young Europe« durchgeführt. Junge Mensche in Deutschland zwischen 16 und 26 Jahren wurden aufgerufen, ihre Vorstellungen von der Zukunft Europas zu artikulieren - per Text, Foto, Video oder Audiomessage. Innerhalb weniger Wochen beteiligten sich mehr als 100 junge Menschen. Einige von ihnen wurden von der TUI Stiftung zu Workshops nach Berlin eingeladen. Die dabei konzipierte Graphic Novel zum Thema Europa wird im Sommer 2019 vorgestellt. Zudem entstand eine »Charta of Young Europe«, mit der junge Menschen kurz vor der Europawahl zeigen, welche Themen ihnen wichtig sind. In der Präambel schreiben sie: »Mit dieser Charta wollen wir einen konkreten wie auch idealistischen Anstoß geben für die europäische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir glauben, dass wir nur mutig und vereint eine lebenswerte Zukunft gestalten können.« Von einem »Amt für Würde« in der EU, über stärkeres Engagement für den Umweltschutz bis zur Forderung nach »kulturellen und sprachlichen Austauschprogrammen« oder nach der Errichtung eines europäischen Kompetenzzentrums für die gesellschaftlichen Aspekte der Digitalisierung zeigen die jungen Menschen, dass sie konkrete Vorstellungen von der Zukunft Europas haben.
Hintergrund
Seit dem Jahr 2017 führt die TUI Stiftung die Studie «Junges Europa« durch, um die Lebenswelt, Identität und politischen Einstellungen junger Menschen in Europa besser verstehen zu können. Für die aktuelle Studie «Junges Europa 2019« wurden vom 21.01.2019 bis zum 12.02.2019 junge Menschen in den folgenden elf Ländern befragt: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, Polen (wie in den Jahren 2017 und 2018). Erstmals wurden 2019 junge Menschen in Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen befragt. Insgesamt wurden im Jahr 2019 8.220 junge Menschen im Alter von 16 bis 26 Jahren per Online-Befragung befragt. In jedem Land wurden die Teilnehmer nach den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bildungsstand repräsentativ entsprechend der tatsächlichen Verteilungen je Land rekrutiert. Für die Analyse wurden die Ergebnisse zusätzlich nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand gewichtet, um geringfügige Abweichungen auszugleichen. Ergebnisse, die über alle Länder hinweg ausgewiesen werden, wurden zusätzlich so gewichtet, dass jedes Land mit dem gleichen Gewicht eingeht.
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