Führung 4.0: Kulturwandel statt Kontrolle
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Markus Dohm, Köln.
Mit der digitalen Transformation ändern sich die Anforderungen an Führung fundamental und dynamisch. Sie stellen bisherige Prinzipien des Managements komplett in Frage. Doch Leistungsverdichtung und Beschleunigung müssen einhergehen mit einem Kulturwandel in den Köpfen von CEOs, COOs, CDOs.
90 Prozent der Unternehmen sehen in der digitalen Transformation große Chancen, drei Viertel haben bereits eine Digitalisierungsstrategie, aber nur 34 Prozent berichten, dass sich die Digitalisierung bereits positiv auf ihre Umsätze auswirkt. Das sind die Kernpunkte einer aktuellen Befragung des Branchenverbands Bitkom aus März 2017. Je größer die befragten Unternehmen in der repräsentativen Umfrage, desto positiver beurteilten sie ihre Entwicklung. Im industriellen Mittelstand erwarten allerdings nur 27 Prozent höhere Umsätze. 39 Prozent erkennen auf dem Weg zum digitalisierten Unternehmen Hemmnisse durch »unzureichende Kompetenzen der Mitarbeiter«. Vielerorts fehlt das Know-how, die Geschäfts- und Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Parallel steigt der Druck von Märkten und Kunden. Die Ansprüche an Unternehmen, Produkte und Dienstleistung wachsen massiv: Transparentere Kommunikation, individuellere Leistungen, höhere Service-Levels, schnellere und originellere Lösungskompetenz sind die Treiber der digitalen Transformation.
Generation Y lebt online und wünscht Digital Leadership
Alle Geschäfts- und Arbeitsprozesse müssen diesen neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Damit ändern sich auch die Anforderungen an Führung fundamental und dynamisch. Sie stellen bisherige Prinzipien des Managements komplett in Frage. Doch was genau bedeutet Führung 4.0 konkret im Arbeitsalltag? Welche Barrieren sind in den Köpfen zu überwinden, von welche Annahmen gilt es sich zu lösen? Wie gelingt es, eine unternehmerische Vision zu entwickeln und umzusetzen und zugleich die Widerstände und Bedenken durch Überzeugung aller Stakeholder aufzulösen? Klar ist: Die ökonomischen Rahmenbedingungen verlangen Führungskräften und Mitarbeitern neue Kompetenzen ab. Und dabei geht es vorrangig nicht nur um IT-, Technik- oder Medienkompetenz. Denn nicht nur Kunden stellen klassische Geschäftsmodelle in Frage. Mittlerweile arbeitet die erste Generation der »Digital Natives« in den Unternehmen. Die 20- bis 37-Jährigen sind mit Computern aufgewachsen und in einer vernetzten Welt sozialisiert. Ihre Repräsentanten leben ein anderes Kommunikationsverhalten. Sie sind es gewohnt, persönliche Informationen und ihr Wissen zu teilen, dezentral und virtuell in Netzwerken und auf Projekten zu arbeiten. Auch ihr Wertegerüst basiert auf anderen Säulen als die der heutigen Führungskräfte der zweiten und dritten Ebene. Den Young Professionals ist Selbstverwirklichung wichtiger als Geld, Potenzialentfaltung wertvoller als Chefposten, Work-Life-Integration erstrebenswerter als Karriere, Teamleistung zählt mehr als rigoroses Einzelkämpfertum.
Hinzu kommt: Durch ihre aktuellere Qualifikation und eine zunehmende Spezialisierung fordern junge Fachkräfte heute mehr Entscheidungsfreiheit. Das kollektive Wissen, das sie sich über ihre unternehmensübergreifenden Netzwerke in kürzester Zeit verschaffen, spielt eine größere Rolle als Herrschaftswissen. Durch die Schwarmintelligenz haben Silo- und Abteilungsdenken nicht nur ihre Legitimität verloren. Ungeteilt sind zurückgehaltene Informationen und Wissen wertlos für ein Unternehmen, das in immer kürzeren Innovationszyklen arbeiten muss.
Vor diesem Hintergrund bedeutet Führung 4.0 ein neues Führungsverständnis und braucht völlig andere Managementmethoden als in der Vergangenheit. Die alten Zeiten sind definitiv vorbei, als Manager allein aus ihrer Hierarchiestufe ihren Durchsetzungsanspruch ableiteten. Kontrolle als Führungsstil hat keine Zukunft mehr. Führungskräfte brauchen Werte und Haltung, damit sie den Raum für Kreativität schaffen und zugleich Sicherheit geben können. Gefordert ist digitale Führungskompetenz – angefangen beim CEO bis in die dritte und vierte Führungsebene.
Innovationen entstehen in Projekten, nicht in abgeschotteten Linienfunktionen
Eine starre auf Hierarchien basierende Führungskultur wird heute weder den Kundenbedürfnissen noch den Mitarbeitern gerecht. Die klassische Linienorganisation mit langwierigen Entscheidungsprozessen ist zudem nicht in der Lage, auf die immer schneller sich ändernden Markt- und Kundenanforderungen zu reagieren. Immer mehr Unternehmen arbeiten deshalb in Projekten. Nach einer Studie des Personalberaters Hays (»Von starren Prozessen zu agilen Projekten«, Oktober 2015) verbringen Mitarbeiter aus den Bereichen Finanzen sowie Forschung und Entwicklung 35 Prozent ihrer Arbeitszeit in Projekten. In den vorangegangenen zwei bis drei Jahren ist dieser Anteil um 62 Prozent gestiegen. In der IT verbringen Mitarbeiter bereits 45 Prozent ihrer Zeit in Projekten. Die Berater prognostizieren einen weiteren rasanten Anstieg der Projektorganisation in allen Bereichen. Heute schon wird ein Drittel der Bruttowertschöpfung in Projekten erwirtschaftet. Zu diesem Ergebnis kam 2015 eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement. 2018 soll dieser Anteil des Projektgeschäfts auf 40 Prozent steigen. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass in Unternehmen mit hohen Innovationserfolgen rund 45 Prozent der Arbeitszeit in Projekten erbracht wird.
Kulturwandel wichtiger als Technik
Für Mitarbeiter bedeutet dies: Die Sicherheit in festen Teams und mit klaren Arbeitsprozessen löst sich sukzessive auf. Ständig müssen sie sich auf Neues einlassen, in einem neuen sozialen Umfeld ihre Leistung erbringen und Ziele realisieren. Dies geht oft einher mit Ortswechseln, virtuellen Arbeitsgruppen, unterschiedlichen Arbeitszeiten, wechselnden Vorgesetzen und Kollegen. Während die Digital Natives in der Regel solchen dynamischen Arbeitsbedingungen offen gegenüberstehen, tun sich Mitarbeiter jenseits der 50 häufig schwer damit. Gleichwohl ist das Erfahrungswissen der älteren Generationen in der Projektarbeit dringend nötig. Diese Entwicklung hat zwangläufig Einfluss auf die Führungsaufgaben und die Methoden. An die Stelle der Aufgabenverteilung tritt die Herausforderung, Teams für Projekte zusammenzustellen. An die Stelle von Auftrag und Überwachung der Umsetzung tritt für Führungskräfte die Aufgabe, durch ein authentisches, offenes, kommunikatives Verhalten Prozesse anzustoßen und zu begleiten. Parallel verlieren Manager in solchen volatilen Arbeitsprozessen ihre klassischen Kontrollmöglichkeiten. Sie müssen Verantwortung in Teams delegieren, ihnen Entscheidungsspielräume übertragen. Sie müssen sie auch über eine räumliche oder zeitliche Distanz effektiv führen und bei Bedarf Konflikte lösen können. Der Kontrollverlust in der alltäglichen Arbeit bedeutet aber nicht, dass sie ihre Steuerungsfunktion aufgeben. Im Gegenteil. Führung 4.0 bedeutet in der Digitalisierung, dass Manager zugleich immer wieder entlang der Unternehmensziele Projektziele formulieren und für deren Realisierung die richtigen Ressourcen bereitstellen müssen. Sie müssen die Potenziale ihrer Mitarbeiter erkennen, ihre Fähigkeiten fördern und zum Einsatz bringen. Sie müssen die auch von ihrer Persönlichkeit verschiedenen Individuen in den Teams zu kreativen Prozessen führen, ihnen die richtigen Fragen stellen und ihre Schwarmintelligenz nutzen. »Führung 4.0« bedeutet also, Projekte mit den richtigen Menschen und Ressourcen auf die Schiene zu bringen und sie zu innovativen Lösungen zu inspirieren – eigentlich bis dahin nichts Neues, in Zukunft ist dieser Ansatz aber entscheidend! Die Führungskraft 4.0 ist Ermöglicher des vermeintlich Unmöglichen (das, was vorher noch niemand gemacht hat). Nur so entstehen schnellere Innovationen im Kundeninteresse oder gar disruptive Ansätze. Markus Köhler, Senior Director Human Resources und Mitglied der Geschäftsleitung von Microsoft Deutschland brachte es im Juni 2016 auf den Punkt: »Damit Unternehmen schneller auf Marktveränderungen reagieren können, müssen Führungskräfte mehr Verantwortung in die Teams abgeben, die nahe am Markt und am Kunden agieren und Mitarbeitern mehr Freiraum für eigene Entscheidungen überlassen. Manager sollten in Zukunft mehr coachen und weniger kontrollieren.« Es geht also um einen Kulturwandel, der weniger von Technik als von der Haltung getrieben wird, mit der Führungskräfte ihre Abteilungen oder Teams begleiten.
Vom Anleiter und Kontrolleur zum Moderator und Coach
Führungskräfte brauchen in einer digitalisierten Arbeitswelt ein erweitertes Kompetenz-Setting, das über rein technische Fertigkeiten hinausgeht. Während sie sich fachliche und methodische Fähigkeiten noch aneignen können, sind soziale und persönliche Kompetenzen schon schwieriger zu erwerben. Projekt-, Selbst- und Zeitmanagement oder Medienkompetenz lassen sich »on the job« trainieren. Solche internetbasierten Lern- und Trainingskonzepte sind vielfach erprobt und passen sich für ein Selbststudium an die Anforderungen im Joballtag an. Andere Kompetenzen wie emotionale Intelligenz, Empathie, Stressbewältigung und -resistenz, Moderation von Konflikten und Interkultureller Vielfalt haben mehr mit den Persönlichkeitsprofilen der Führungskräfte zu tun. Doch auf genau diese kommt es in der virtuellen Projektarbeit mehr denn je an.
Führung virtueller Teams, Steuerung von Projekten auf Distanz und über Medien wie Chat, Intranets, Foren und Wikis sowie Messenger und Video-Konferenzen haben den Nachteil, dass sich Teams immer seltener persönlich treffen. Die Kommunikationsräume »Kaffeeküche« und »Kantine« entfallen im virtuellen Raum, Pausen- und Flurgespräche zur Klärung persönlicher Konflikte sind mediengestützt nur schwer beziehungsweise anders zu organisieren.
Die Aufgabe von Führungskräften ist, ihre dezentral verteilt arbeitende Mitarbeiter nicht nur fachlich zu begleiten, sondern auch auf einer persönlichen Ebene zu kennen. Sie müssen eine nachhaltige Arbeitsbeziehung zu ihnen aufzubauen und dafür sorgen, dass dies auch innerhalb der Teammitglieder geschieht. Führungskräfte müssen frühzeitig erkennen, wenn es in einem Projekt auf der persönlichen Ebene der Teammitglieder knirscht. Dann gilt es, solche Konflikte zu moderieren, die Mitarbeiter coachen, sie zur Selbstreflexion anzuregen. Voraussetzung für diese Supervisions-ähnlichen Aufgaben ist, dass Führungskräfte ihre eigene Persönlichkeit reflektieren und ihre Werte, Haltungen, Überzeugungen im Kontext ihrer Aufgaben und Ziele festigen und ergänzen. Daniel Goleman bezeichnet diese Kompetenz als emotionale Intelligenz: Selbstwahrnehmung und Selbstbeherrschung, Wahrnehmung der Mitarbeiter mit Empathie und die Bereitschaft zum Beziehungsaufbau. Gleichzeitig müssen solche Manager das große Ganze im Auge behalten. Sie müssen die Fernziele oder auch Visionen formulieren und sie im Einklang mit den Unternehmenszielen halten. Alles das ist ein geistiger, psychischer und kommunikativer Spagat. Viele Führungskräfte brauchen dafür professionelle Begleitung, wenn sie nicht in einen digitalen Dauerstress kommen sollen. Hier sind vielfach individuelle Coaching-Angebote nicht nur zielführend, sondern nahezu unerlässlich.
In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.
VERWEISE