Systemische Beratung in Unternehmen
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Michael Reichl und Frank Linde.
In der modernen, vernetzten Arbeitswelt müssen die Führungskräfte und Mitarbeiter von Unternehmen beim Lösen ihrer Aufgaben stärker als früher die Auswirkungen ihres Tuns auf das System vor Augen haben. Diese Kompetenz gilt es bei ihnen zu entwickeln – zum Beispiel mit Hilfe firmeninterner Trainer und Berater.
Unter anderem aufgrund des Siegeszugs der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie werden die (Arbeits-und Kommunikations-)Strukturen und Beziehungen in den Unternehmen immer vernetzter. Das heißt,
- die Abteilungs- und Bereichsgrenzen lösen sich zunehmend auf und
- die zentralen Leistungen der Unternehmen werden zunehmend von abteilungs- und bereichsübergreifenden Teams erbracht – Teams, denen nicht selten auch Mitarbeiter externer Partner und Dienstleister angehören.
Komplexität der (Change-)Projekte steigt
Hierdurch werden auch die Veränderungsvorhaben in den Unternehmen komplexer – unter anderem, weil
- mehr Einflussfaktoren auf die Projekte zu beachten sind,
- mehr potenzielle Auswirkungen auf das Gesamtsystem zu bedenken sind und
- mehr Personen mit teils unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen zu integrieren sind.
Deshalb lassen sich viele strategische Changevorhaben , die zum Beispiel auf eine Veränderung der Kultur und Zusammenarbeit in einem Unternehmen abzielen, nicht mehr so linear planen wie die Projekte in der Vergangenheit.
Hieraus ergeben sich auch neue Anforderungen, an die Schlüsselpersonen in den Projekten – unabhängig davon, ob es sich hierbei um Führungskräfte, Projektmanager oder Spezialisten handelt; unter anderem weil bei den Projekten mehr Interdependenzen, also Wechselwirkungen und wechselseitige Abhängigkeiten, zu beachten sind.
Mehr internes systemisches Know-how gefragt
In der Vergangenheit engagierten Unternehmen meist, wenn sie beim Planen eines komplexen, strategisch relevanten Projekts spürten »Uns fehlen hierfür intern wichtige Kompetenzen«, externe systemische (Projektmanagement-)Berater. Diese analysierten mit den Verantwortlichen in der Organisation unter anderem:
- Wie sehen die Rahmenbedingungen des Projekts aus?
- Welche Interdependenzen gilt es zu beachten?
- Welche Interventionen wären möglich, um das Projektziel zu erreichen?
- Was wären die potenziellen Konsequenzen, wenn wir die Intervention A oder B ergreifen?
- Mit welchen Konflikten/Problemen müssen wir in den verschiedenen Projektphasen und bei den geplanten Interventionen rechnen und was wären geeignete Gegenmaßnahmen?
Und danach entwerfen sie ein passendes Projektdesgin.
Dieses Vorgehen werden Unternehmen im Bedarfsfall auch künftig praktizieren. Künftig werden sie jedoch mehr systemisches Know-how in der eigenen Organisation benötigen, wenn sie bei Changevorhaben nicht nur nachhaltige Lösungen entwerfen, sondern auch im Betriebsalltag implementieren möchten. Unter anderem aus folgendem Grund:
- Der Changebedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß, dass er zentral nur noch bedingt erfasst werden kann. Und:
- Der Changebedarf ist heute in den einzelnen Bereichen der Unternehmen meist so verschieden, dass er mit top-down organisierten Maßnahmen nur noch teilweise befriedigt werden kann.
Hinzu kommt: Die Rahmenbedingungen der Projekte in den Unternehmen verändern sich so rasch, dass in deren Verlauf immer wieder reflektiert werden muss: Sind die geplanten Maßnahmen noch zielführend oder müssen sie überdacht und neu justiert werden, damit die übergeordnete Ziele erreicht werden?
Ein zentraler Hebel: firmeninterne Trainer und Berater
Das heißt, die Projektdesigns müssen mehr Reflexionsschleifen enthalten. Und solche Einrichtungen wie zum Beispiel ein Sounding Board, das den Projektverantwortlichen regelmäßig ein Feedback über den Erfolg der Maßnahmen und die Stimmung im Betrieb gibt? Sie werden zunehmend unverzichtbar. Zudem muss das systemische Denken und Handeln insbesondere der Führungskräfte auf der operativen Ebene gestärkt werden, da sie
- die zentralen Projektsteuerer und Changemanager im Arbeitsalltag vor Ort sind,
- ihren Mitarbeitern immer wieder die Ziele des Projekts sowie der geplanten Veränderungen und Maßnahmen vermitteln müssen und
- diese als Mitstreiter gewinnen und in den Changeprozess einbinden müssen.
Ein zentraler Hebel, um den Führungskräften und Mitarbeitern auf der operativen Ebene diese Kompetenz zu vermitteln, sind die firmeninternen Trainer und Berater. Wenn sie das erforderliche systemische Denken und eine entsprechende Haltung verinnerlicht haben, können sie in ihren Trainings und Beratungen auch eine entsprechende Einstellung und Haltung bei ihrem jeweiligen Gegenüber fördern und bewirken. Wie diese Kompetenz bei den internen Beratern und Trainern entwickelt werden kann, sei am Beispiel eines Projekts beschrieben, das die Im-prove Coaching und Training GmbH seit 2015 bei einer gesetzlichen Krankenkasse begleitet.
Ein Projektbericht
In der Krankenkasse reifte Anfang 2015 die Erkenntnis: Wir sind bundesweit im Markt zwar gut aufgestellt, doch wenn wir unsere Marktposition halten oder gar stärken möchten, müssen wir neue Impulse setzen, die darauf abzielen, die Kompetenz unserer Mitarbeiter zu erhöhen,
- »Probleme« und Verbesserungschancen in unserem System (zum Beispiele Abläufe, Prozesse, Tools) selbst zu erkennen und
- diese eigenständig zu lösen beziehungsweise zu nutzen.
Um diese Ziele zu erreichen, entschied die Krankenkasse im Dialog mit Im-prove im Unternehmen einen systemischen Coaching- und Beratungsansatz einzuführen; außerdem ein Qualifizierungsprogramm für die internen Trainer und Berater zu starten, das diese dazu befähigt, mit diesem systemischen Ansatz
- die Mitarbeiter und Führungskräfte langfristig wie gewünscht zu entwickeln und
- diese in Leistungs- und Motivationskrisen lösungs- und entwicklungsorientiert zu begleiten.
Konkret heißt dies: Künftig sollen die internen Trainer und Berater bei ihrer Arbeit ihren Kollegen die Lösung für herausfordernde Aufgaben nicht mehr vorgeben, indem sie zum Beispiel sagen: »Tue dies und tue das, dann hast du Erfolg«. Sie sollen diese vielmehr bei der Suche nach einer Lösung »mit einer hohen Empathie und Wertschätzung« begleiten und zwar so, dass ihre Kollegen selbst eine Lösung finden und deshalb ihre Kompetenz, Probleme eigenständig zu erkennen und konform mit den Unternehmenszielen zu lösen, sukzessive steigt.
Interne Trainer und Berater weiterqualifiziert
Das im Frühsommer 2015 entwickelte Konzept der Qualifizierungsmaßnahme sah vor: Die internen Trainer und Berater werden in mehreren Gruppen zu je 12 Teilnehmern über einen Zeitraum von zwei Jahren in systemischer Haltung und Arbeit qualifiziert. Parallel dazu finden regelmäßig funktions- und hierarchieübergreifende Workshops statt, in denen unter anderem überprüft wird, ob die Prozesse in der Organisation das Umsetzen des systemischen Beratungsansatzes in der Praxis lähmen oder gar verhindern.
Ende 2015 startete die Qualifizierung der ersten beiden Trainer- und Beratergruppen. Sie wurden jeweils in fünf fünf-tägigen Modulen, die von zwei Im-prove-Lehrcoaches geleitet wurden, in der systemischen Beratung qualifiziert.
Die fünf Module der Weiterbildung
Modul 1: Systemische Grundlagen.
In ihm befassten sich die Trainer und Berater mit den Grundlagen des systemischen Denkens und des Konstruktivismus. Außerdem lernten sie die verschiedenen Systemarten kennen und erfuhren, wodurch sich die Systemische Beratung von der klassischen Trainer- und Beratertätigkeit unterscheidet. Sie reflektieren zudem ihre Persönlichkeit und Werte und inwieweit diese mit den Grundhaltungen einer Systemischen Beratung kompatibel sind. Außerdem lernten sie Tools der systemischen Arbeit kennen (zum Beispiel Stärken-/Schwächenanalyse, zirkuläres Fragen, Soziogramme, systemisches Feedback, systemische Hypothesen) und trainierten deren Einsatz.
Modul: 2: Prozessorientierung
In ihm befassten sich die Teilnehmer mit den verschiedenen Phasen von personalen und organisationalen Veränderungsprozessen sowie den gruppendynamischen Prozessen, die hierbei ablaufen. Sie beschäftigten sich mit den Themen Übertragung und Gegenübertragung sowie Glaubenssätze und deren Umdeutung. Außerdem lernten sie weitere systemische Werkzeuge und Interventionen kennen.
Modul 3: Umgang mit Konflikten
In ihm lernten die Teilnehmer die verschiedenen Konfliktarten und -stile kennen; außerdem erfuhren sie. wie Konflikte entstehen und eskalieren. Sie lernten zudem als systemische Berater Konflikte aufgrund der Werte und Bedürfnisstruktur der Beteiligten so zu bearbeiten, dass tragfähige Lösungen entstehen und der Konflikt als Chance für Veränderungen genutzt wird.
Modul 4: Beratungsprozesse / Selbstmarketing
In ihm befassten sich die Teilnehmer mit der Diagnose von Organisationseinheiten. Sie beschäftigten sich zudem mit dem Thema »Systemisches Führungsverständnis« und der lebens- und arbeitsgeschichtlichen Entstehung der individuellen Führungsstile. Zudem befassten sie sich mit der Frage, wie systemische Berater Führungskräfte bei ihrer Entwicklung und beim Entwickeln ihrer Mitarbeiter begleiten können. Außerdem erfuhren sie, wie sie sich firmenintern gut vermarkten können.
Modul 5: Vision und Ziele
Im letzten Modul reflektierten die Teilnehmer ihre Entwicklung in der Qualifizierungsmaßnahme. Außerdem entwarfen sie eine Vision für ihre künftige Entwicklung als Systemische Trainer und Berater und erstellten für sich Entwicklungspläne. Auch die Bedeutung von Ritualen sowie der Visionsarbeit mit Personen und Teams wurde reflektiert, bevor das Geleistete in der Abschlussfeier gewürdigt wurde.
Unterstützung der Trainer und Berater beim Umsetzen
Nach den einzelnen Modulen setzten die Teilnehmer ihre neuen Kompetenzen stets in bestehenden Trainings- und Beratungsprozessen ein. Deshalb wurden in jedem Modul am letzten halben Tag im Diskurs mit den Lehrcoaches die Einsatzmöglichkeiten bestimmt. Außerdem fand zwischen den Modulen ein Lernen in Lern- und Intervisionsgruppen statt, in denen die Teilnehmer sich kollegial berieten. Zudem wurden sie in ihrer Entwicklung durch Einzelcoachings und Supervision begleitet. Zu Beginn des Folgemoduls wurden dann die gesammelten Erfahrungen reflektiert.
Fünf Monate nach Beginn der Weiterqualifizierung der ersten beiden Trainer- und Beratergruppen, also im Frühjahr 2016, fanden die ersten Prozess-Workshops »Systemische Beratung in unserer Organisation« statt. An ihnen nahmen außer den beiden Projektleitern und Teilnehmern der Qualifizierungsmaßnahme Bereichsleiter und Vertreter der Unternehmensführung teil.
Diese Workshops dienten dazu, funktions- und hierarchieübergreifend einen gemeinsamen Kenntnisstand bezüglich der Einstellungen und Haltungen sowie Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine systemische Personalentwicklungs- und Führungsarbeit voraussetzt; außerdem über die hierbei genutzten Verfahren und Methoden. Zudem sollte nochmals ermittelt werden,
- welche Potenziale sich aus einer Stärkung der systemischen Arbeit in der Krankenkasse ergeben, und
- welche organisationalen und strukturellen Hindernisse für ein systemisches Beraten im Unternehmen noch bestehen.
Danach wurde eine Commitment darüber erzielt, wie die Hindernisse beseitigt werden, so dass die systemische Beratungsarbeit ihre volle Wirkung entfalten kann.
Ende 2016 startete die zweijährige Weiterbildung einer weiteren Trainer- und Beratergruppe. In diese flossen beziehungsweise fliesen bereits die Erfahrungen aus den ersten beiden Gruppen ein. Zudem fanden Ende 2016 erneut Prozess-Workshops statt, in denen die Teilnehmer funktions-, abteilungs- und hierarchieübergreifend ermittelten,
- wie der Prozess der Einführung des systemischen Beratungsansatzes verläuft,
- wie das Erreichte gesichert werden kann und
- welche Hindernisse sich im Alltag noch zeigen.
Prozess-Workshops monitoren den Kultur-Wandel
Solche Prozess-Workshops finden regelmäßig statt, denn die Krankenkasse erachtet sie als ein wichtiges Monitoring- und Steuerungsinstrument in dem Prozess,
- den systemischen Beratungsansatz in der Organisation zu verankern und
- die Kompetenz der Mitarbeiter zum eigenständigen Erkennen und Nutzen von Verbesserungschancen sowie Lösen von Problemen kontinuierlich zu erhöhen
– und so mittelfristig den angestrebten Kulturwandel im Unternehmen zu bewirken.
In diesem Prozess lassen sich folgende Zwischenergebnisse konstatieren: Die Arbeit der firmeninternen Trainer und Berater hat bei den Mitarbeitern und Führungskräften stark an Akzeptanz gewonnen, da sich diese bei deren Trainings, Beratungen und Coachings stärker in ihrer tatsächlichen Situation gesehen und abgeholt fühlen. Und die gefundenen Lösungen? Sie werden als nachhaltiger erlebt.
Ein weiteres Ergebnis ist: Die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter und Führungskräfte ist gestärkt, da sie die im Betriebsalltag praktizierten Lösungen selbst entwickeln. Nicht bestätigt hat sich die anfangs, vereinzelt artikulierte Befürchtung, hierdurch werde sich der Leistungsdruck für die Mitarbeiter und Führungskräfte erhöhen – unter anderem, weil die Betroffenen erkannten:
- Der Systemische Beratungsansatz eröffnet uns mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Und:
- Die von uns entwickelten Lösungen sind oft besser; zumindest können wir uns stärker mit ihnen identifizieren.
Hieraus erwuchs eine neue intrinsische Motivation, alleine oder im Team Veränderungen aktiv anzugehen.
Neues Erleben ermöglicht neue Lösungen
Auch die Einstellung und das Verhalten der internen Trainer und Berater haben sich verändert. Heute gibt es in der Krankenkasse keinen Mitarbeiter und keine Führungskraft mehr, über den Trainer und Berater resignativ sagen: »Der oder die will einfach nicht«.
Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der systemische Beratungsansatz den Trainern und Beratern einen neuen Blick auf ihre Kollegen auf der operativen Ebene und deren Handlungsmotive eröffnete. Deshalb werden heute in der Krankenkasse im Dialog mit den Führungskräften und den Mitarbeitern sowie zwischen ihnen in der Vergangenheit nicht denkbare Lösungen initiiert und realisiert – weshalb das Unternehmen auch besser für die Zukunft gewappnet ist.
Sie sind anerkannte Berater des Förderprogramms der EU und Bundesregierung unternehmensWert: Mensch
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