Mit dem 360°-Feedback Change-Prozesse stimulieren und steuern
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Dr. Georg Kraus, Bruchsal.
»Unsere Unternehmens- und Führungskultur muss sich ändern, damit wir im digitalen Zeitalter fit für die Zukunft sind«. Dieser Überzeugung sind viele Unternehmen. Ein bewährtes Instrument, um solche Entwicklungsprozesse zu stimulieren und zu steuern, ist das 360°-Feedback, bei dem zum Beispiel die Führungskräfte eine Rückmeldung über ihr Verhalten von mehreren Seiten erhalten.
Der emeritierte Psychologie-Professor Dr. Oswald Neuberger war bekannt für seine klare Sprache. Entsprechend pointiert äußerte sich der Arbeits- und Organisationspsychologe einst über das 360°-Feedback, bei dem Führungskräfte von ihren Vorgesetzten, Mitarbeitern und Kollegen und zuweilen auch Kunden und Lieferanten eine Rückmeldung über ihr (Führungs-)Verhalten erhalten. Er lehnte die »Rundum-Beurteilung« von Führungskräften »rundum ab« und verglich das 360°-Feedback mit einem Panoptikum.
Ein Panoptikum ist ein als Rundbau konzipiertes Gefängnis, in dessen Mittelpunkt ein Wachturm steht. Von dort aus können die Wärter alle Zellen kontrollieren. Deshalb fühlen sich die Gefangenen ständig beobachtet und verhalten sich so, wie sie glauben, dass dies erwünscht sei. Ähnlich verhielte es sich beim 360°-Feedback kritisierte Neuberger. Nur dass dort an die Stelle der Wärter das »höhere Management« trete.
Eine harsche Kritik! Trotzdem nutzen heute mehr Unternehmen denn je dieses Instrument für ihre Personal- und Führungskräfteentwicklung – speziell solche, die unter einem hohen kulturellen Veränderungsdruck stehen. Denn Neubergers Kritik am 360°-Feedback stellt die betriebliche Realität auf den Kopf.
Führungskräfte stellen im Fokus der Beobachtung
Anders als im Panoptikum sind im Unternehmensalltag nicht »die Gefangenen«, sprich Mitarbeiter, dem permanenten überwachenden Blick der »Wärter«, sprich Führungskräfte, ausgesetzt. Vielmehr ruht der Blick der Mitarbeiter auf den Führungskräften. Sie beobachten, was jene wie tun – unter anderem, weil die Führungskräfte für sie eine Vorbildfunktion haben. Entsprechend wichtig ist es, dass die Führungskräfte ein ihrer Position, der Situation und den (Entwicklungs-)Zielen des Unternehmens angemessenes Verhalten zeigen.
Führungskräfte müssen sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter effektiv (zusammen-)arbeiten (können); außerdem, dass die Zusammenarbeit mit den anderen Bereichen funktioniert. Dies ist in der von zunehmender Vernetzung geprägten Arbeitswelt, in der
- immer mehr Verantwortung auf die operative Ebene verlagert wird und
- die (bereichsübergreifende) Team- und Projektarbeit zunehmend den Arbeitsalltag dominiert
eine immer wichtigere Kernaufgabe von Führung. Nur selten erhalten Führungskräfte im Alltag jedoch eine klare und nachvollziehbare Rückmeldung, inwieweit sie diese Aufgaben adäquat wahrnehmen. Entsprechend schwer fällt es ihnen, sofern nötig, ihr Verhalten gezielt zu verändern. Dieses Manko soll mit dem 360°-Feedback behoben werden.
Kernfrage: Welche Entwicklung wollen wir anstoßen?
Dabei gilt es jedoch festzuhalten: Das 360°-Feedback ist nur ein Instrument, um personale und/oder organisationale Entwicklungsprozesse zu flankieren. Deshalb wird es von den Unternehmen in der Regel anlassbezogen eingesetzt. Mit seinem Einsatz sind konkrete Entwicklungsziele verbunden.
Hierfür ein Beispiel. Vor einigen Jahren erkannte ein Elektronikunternehmen: Wir müssen uns von einem Produkteanbieter zu einem System- beziehungsweise Problemlösungsanbieter entwickeln, und hierfür muss sich neben der Struktur unseres Unternehmens auch dessen (Führungs-)Kultur ändern. Also startete das weltweit agierende Unternehmen ein »Fit for Future« (3F), genanntes Personal- und Organisationsentwicklungsprogramm. Mit ihm sollten in dem Unternehmen unter anderem flexiblere Organisationsstrukturen geschaffen werden. Außerdem sollte die (bereichs- und standortübergreifende) Zusammenarbeit verbessert werden.
Dabei war den Verantwortlichen klar: Inwieweit wir diese Ziele erreichen, hängt vor allem davon ab, wie stark die Führungskräfte den Wandel promoten und wie sie ihre Mitarbeiter führen. Deshalb entwickelte das Unternehmen auch neue Führungsleitlinien. Durch den mit dem Entwickeln der neuen Leitlinien verbundenen Diskussionsprozess veränderte sich bereits das Selbstverständnis der Führungskräfte. Das bedeutete jedoch noch keineswegs, dass fortan alle das gewünschte Führungsverhalten zeigten.
Deshalb gelangte die Unternehmensleitung zur Erkenntnis: Wir brauchen ein Instrument, das unseren Führungskräften eine dokumentierte Rückmeldung über ihr Verhalten gibt. Also wurde ein regelmäßiges Management-Audit auf Basis eines 360°-Feedbacks eingeführt. Bei diesen im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Audits erhalten die Führungskräfte stets von mehreren Personengruppen eine (schriftliche) Rückmeldung über ihr (Führungs-)Verhalten – von ihren Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten.
Kein Auswahl-, sondern ein Entwicklungsinstrument
Der Elektronikkonzern nutzt das 360°-Feedback also als Personal-, Organisations- und Managemententwicklungsinstrument – jedoch nicht als Beurteilungsinstrument. Das heißt, die Ergebnisse des 360°-Feedbacks haben keine Auswirkungen auf die Entlohnung und die weitere berufliche Entwicklung. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die Feedback-Ergebnisse weder den Vorgesetzten der beurteilten Führungskräfte noch der Personalabteilung mitgeteilt werden.
Ebenso ist es in fast allen Unternehmen, die das 360°-Feedback für die Führungskräfteentwicklung nutzen. Zumeist erhalten das Top-Management und Personalabteilung nur einen Gesamtbericht, in dem die Ergebnisse kumuliert dargestellt sind. Hieraus können sie dann ersehen,
- wie stark das gewünschte Führungsverhalten und die damit verbundenen Skills in ihrer Organisation bereits ausgeprägt sind,
- wo noch Defizite bestehen und
- welche Förder- und Entwicklungsmaßnahmen folglich angeboten werden sollten.
Dass die zugesicherte Anonymität gewahrt bleibt, ist wichtig. Denn sonst würde das Instrument in der Regel nicht akzeptiert. Das heißt, die Mitarbeiter würden sich entweder weigern, die Fragebogen auszufüllen oder in ihnen geschönte Antworten geben, wodurch das Feedback wertlos wäre. Und die Führungskräfte? Sie würden auf die Mitarbeiter zumindest einen subtilen Druck ausüben, sie möglichst positiv zu bewerten.
Ein Beispiel aus der betrieblichen Praxis
Wie die Einführung und Durchführung des 360°-Feedback erfolgen kann, sei am Beispiel eines anderen Technologiekonzerns erläutert, der dieses Tool seit fünf Jahren als Personal- und Organisationsentwicklungsinstrument nutzt. Nachdem die Grundsatzentscheidung gefallen war, wurde eine Projektgruppe gegründet. Diese definierte zunächst die Befragungsbereiche und Themenschwerpunkte. Außerdem wurden die Bewertungskriterien und die Teilnehmergruppen bestimmt. Dann entwickelte die Projektgruppe einen modular aufgebauten Fragebogen.
Nachdem die Fragebogen entwickelt waren, wurden alle Beteiligten, Feedbackgeber und -nehmer, zu einer Kick-Off-Veranstaltung eingeladen. Dort erläuterte das Management, warum es das 360°-Feedback einführen möchte. Außerdem wurde das Verfahren erläutert und mit den Teilnehmern diskutiert. Anschließend verteilten Mitarbeiter der Unternehmensberatung, die an dem Prozess beteiligt war, die Fragebogen. An das Beratungsunternehmen, also einen externen Partner, sollten die Feedbackgeber auch die ausgefüllten Bögen zurücksenden. Dort wurden sie bezogen auf die einzelnen Führungskräfte und die verschiedenen Feedbackgeber-Gruppen (Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte) ausgewertet. Letzteres ist wichtig, weil diese aufgrund ihrer Position und Funktion im Unternehmen zum Beispiel bezüglich des Kommunikationsverhaltens einer Führungskraft unterschiedliche Erwartungen haben. Deshalb müssen die Differenzen sichtbar bleiben.
Ergebnisse besprechen und Maßnahmen vereinbaren
Nachdem die Auswertungen vorlagen, traf sich Mitarbetire der externen Unternehmensberatung mit den Führungskräften zu Vier-Augen-Gesprächen und besprach mit ihnen die Ergebnisse. Sie schauten gemeinsam, wo Selbst- und Fremdbild der Führungskraft auseinander klaffen und der größte Erklärungs- und Entwicklungsbedarf besteht. Außerdem definierten sie gemeinsam die Themen, die die Führungskraft im anschließenden Workshop mit ihren Mitarbeitern erörtern möchte.
In diesen Workshops stellte die betreffende Führungskraft ihren Mitarbeitern jeweils zunächst die relevanten Ergebnisse des 360°-Feedbacks vor. Dann bat sie diese, um mögliche Erklärungen, wie einzelne Ergebnisse zustande kommen. Dabei war stets ein externer Berater als Moderator anwesend. Er strukturierte das Gespräch – unter anderem, um zu vermeiden, dass sich die Beteiligten in Details verlieren. Der Moderator stärkte aber auch den Mitarbeitern und Führungskräften den Rücken, offen Feedback zu geben. Denn dies erfordert in den Workshops oft Mut. Denn in ihnen wird zuweilen die Anonymität durchbrochen. Schließlich kann sich eine Führungskraft, wenn ein Mitarbeiter anhand von Beispielen aus dem Alltag erläutert, wie eine Beurteilung zustande gekommen sein könnte, vorstellen, welche Bewertung ihm der betreffende Mitarbeiter gab. Deshalb muss ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen den Mitarbeitern und der Führungskraft bestehen.
Der externe Unterstützer sollte auch darauf achten, dass im Workshop und im Vier-Augen-Gespräch mit der Führungskraft Maßnahmen vereinbart werden, wie erkannte Mängel im Führungsverhalten und in der Zusammenarbeit beseitigt werden. Denn das 360°-Feedback ist kein Selbstzweck. Es soll Entwicklungsprozesse anstoßen oder forcieren.
Den Entwicklungsprozess steuern
Ein ähnliches, wie das skizzierte Verfahren praktizieren viele Unternehmen, die mit dem Instrument 360°-Feedback arbeiten – nur dass, die Befragung der Mitarbeiter und Kollegen anders im geschilderten Beispiel nicht mittels Papierfragebogen, sondern online erfolgt. In der Regel führen sie die mit dem 360°-Feedback verbundene Befragung mehrmalig, wenn nicht gar regelmäßig durch – zum Beispiel alle zwei Jahre. Denn als Organisationsentwicklungsinstrument hat das 360°-Feedback einen Verlaufscharakter. Setzt man es nur einmalig ein, wird nur die Ist-Situation angezeigt. Es werden jedoch keine Veränderungen, die sich zum Beispiel im Verlauf eines Change-Prozesses vollzogen haben, sichtbar. Folglich können die Resultate auch nicht genutzt werden, um den weiteren Prozess zu steuern.
Der diplomierte Wirtschaftsingenieur promovierte an der TH Karlsruhe zum Thema Projektmanagement. Er ist Autor des »Change Management Handbuch« (Cornelsen Verlag, 2004) sowie zahlreicher Projektmanagement-Bücher. Seit 1994 ist er zudem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence und der technischen Universität Clausthal.
VERWEISE