Wie werde ich Verschwörungstheoretiker? Eine Anleitung in 7 Schritten

(Geschätzte Lesezeit: 3 - 6 Minuten)

Christoph BurgerFoto: Niels Germerodt Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Christoph Burger, Herrenberg.  

Viele Menschen fragen sich heute: Verschwörungstheoretiker, das ist doch der neueste Hype! Da will ich auch dabei sein! Aber wie geht das? Hier erhalten Sie eine praktische Anleitung. Nur ein paar wenige Schritte – und schon stehen Sie auf der Straße und brüllen energetisiert Parolen gegen Gates und Unterdrückung.

1 Gute Kinderstube

Von Vorteil ist es, wenn Sie ein strenger-Vater-Familienbild mitbringen. Wenn Ihr Kind schreit, nehmen Sie es hoch? Nein? Bestens, dann stehen Sie schon mal auf der richtigen Seite der Menschheit. Ihre Überzeugung: Ich nehme das Kind nicht hoch, denn es soll sich abhärten! Wenn ich es hochnähme, würde ich es verweichlichen! Ich würde ihm die Chance rauben, sich selbst zu beweisen!

2 Im Zweifel klare Kante

Bestens: Sie haben die Welt nun schon einmal grundsätzlich geordnet und das ist wichtig. Der Vater ist der Chef und gibt die Regeln vor. Er muss sich innerhalb der Familie, aber auch nach außen hin beweisen. Deshalb ist es wichtig, dass ihm Waffen zur Verfügung stehen. Er braucht Rückendeckung – durch die Mutter! Diskussionen über diese gottgeschaffene Ordnung der Dinge kann es nicht geben. Wenn überhaupt, dann gibt es Kämpfe.

3 Wissenschaft ist Diskussion

Wissenschaft? Äh, das ist häufig geradezu widerlich, jedenfalls weichlich, oder? Um es mit den Worten vieler US-Männer zu sagen: »Recycling ist schwul«. Kommt also nicht in Frage. Insgesamt: Das Verfahren wissenschaftlicher Aushandlung leuchtet einfach nicht ein. Wo bitte soll da noch ein strenger Vater sein? Vollkommen klar liegt auf der Hand, dass Wissenschaftsgedöns und klare moralische Instanzen schlecht zusammenpassen.

4 Gegnerische Chefs

Ihr Weltbild steht grundsätzlich. Nun muss es nur noch mit geeignetem Personal bevölkert werden. Dazu erweitern Sie die Rolle des strengen Vaters über Ihre eigene Familie hinaus. »Staat ist Familie« klappt hier gut. Dann empfiehlt sich Merkel als Staatslenkerin, um … ähm, welche Rolle zu besetzen? Die des strengen Vaters? Hm, wohl eher so semi. Sie ist schließlich eine Frau! Daher taugt sie vielleicht besser als Feind. Probieren Sie es mal, rufen Sie: Merkel ist schlecht! Merkel muss weg! Hören Sie diesen Sound? Klingt gut, oder? So kann es gehen! Merkel ist der Feind für Ihren eigenen, besseren Vater – den müssen Sie jetzt nur noch finden. Ein besserer Merkel sozusagen.

5 Coronakrise

Hier nun ein kleiner Rückblick aus aktuellem Anlass. Wie ging es Ihnen in den ersten Wochen des Lockdowns? Schlecht? Sie waren irritiert? Nun, das lässt sich erklären. Die Regierung Merkel bildete plötzlich mit Wissenschaftler*innen und Politiker*innen eine Allianz. Plötzlich trugen alle eine Linie mit und hörten auf die Wissenschaft. Schwierig für Sie: Viel Unwohlsein, aber ohne Feind. Gegen wen eigentlich kämpfen, wenn plötzlich alle einer Meinung sind? Ihnen war schon klar, dass das grundsätzlich verkehrt läuft, Wissenschaft und so. Wo bleiben da Gut und Böse, richtig und falsch? Es rumorte in Ihnen, immer heftiger. Aber gegen wen sollte es gehen? Und wem folgen? Alles war quälend unklar und unsortiert. Und dann auch noch dieser Lockdown, puh!

6 Erlösung: Alles lichtet sich

Dann kam die Erlösung. Die Lockerungsdiskussion begann. Wirtschaftsvertreter und FDP positionierten sich. Sie gaben die Richtung vor: Mehr Lockerung, bitte, aber pronto! Oder, in anderen Worten ausgedrückt: Merkel führt mit Drosten ein Unterdrückungsregime! Da es aber die FDP, Manager oder Laschet nicht ganz so formulierten, waren sie nicht geeignet als Anführer. Zum Glück sprangen andere in die Bresche, die das Ganze noch griffiger zusammenbrachten. Jetzt war das Feld bereitet, der Nebel lichtete sich. Die Welt sortiert sich wieder nach der strengen-Vater-Ordnung. Außen – Merkel, Gates, Drosten – die Feinde, innen die freundlichen Lichtgestalten. Das war wie eine Art Wiedergeburt auf Erden für Sie. Endlich konnten Sie die Anstrengungen des Lockdowns abschütteln. Zugleich die Irritation durch diese merkwürdige Politik-Wissenschaft-Einheitsfront in den ersten Corona-Wochen. Jetzt ließ sich auch die Wissenschaft selbst wieder besser begreifen. Jetzt klingt alles wieder schlüssig. Statt wissenschaftlicher Methoden, viele Forschenden, die sich austauschen und den besten Weg finden, gibt es nun auch dort die bösen Gestalten, wie Drosten. Oder zuvor Rahmstorf. Und es gibt gute Figuren. Folgen Sie Detlef, Ken oder Attila (bitte nach Belieben einsetzen).

7 Happy end: Zurück im eigenen Selbst- und Weltbild

Alles klar? So finden Sie in die Spur! Wenn Sie es vorher im Leben schon mal mit Impfgegnerschaft oder ähnlichem probiert haben, geht es jetzt gleich leichter. Berufen Sie sich auf Wodarg und die anderen. Suchen Sie sich einfach eine geeignete Story heraus, die Ihnen sympathisch ist. Grübeln Sie nicht allzu lange darüber nach, welche nun die beste ist. Im Grunde taugen Sie alle gleich viel.

Und so lebten sie glücklich und wurden noch sehr alt – oder wären es geworden, wenn sie nicht zuvor an Covid19 gestorben wären. Oder wenn sie nicht doch als Minderheit keine Chance gehabt hätten, ihre Weltsicht durchzusetzen.

Mitgefühl und Vertrauen: »Hilfe, so kann ich nicht sein!«

Hätten Sie Ihr Kind hochgenommen und getröstet und zwar auf jeden Fall? Tja, dann wird es schwer für Sie, Verschwörungsanhänger zu werden. Vermutlich halten Sie das Mitgefühl hoch. Sie wollen Themen ausdiskutieren. Sie glauben an den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess.

Da Sie nunmal rettungslos auf der anderen Seite stehen: Vergessen Sie Ihre Karriere als Verschwörungsanhänger*in. Sprechen Sie mit den Leuten, die beide Familien-Storys denken können. Sprechen Sie über Mitgefühl. Fragen Sie, warum die Leute der etablierten Wissenschaft nicht vertrauen können. Beißen Sie sich nicht die Zähne an den Hardcore-Leugner*innen aus. Aber investieren Sie in diejenigen, die beide Weltsichten nachvollziehen können: Strenger und Gütiger Vater. Sprechen Sie über Vertrauen, Mitgefühl und Zusammenhalt. Ehrlich gesagt: Ich mag Sie lieber. Ratgeber mit simplen Rezepten mochte ich dagegen nie besonders leiden. Oder schreiben.

Aber, mal unter uns gesagt, denken Sie nicht, Tatsachen könnten die Dinge ändern. Wir ändern immer die Tatsachen so, dass sie zu unseren inneren Strukturen im Gehirn passen. Sei diese Struktur nun das Bild des strengen- oder das des gütigen Vaters. Das betrifft alle Menschen! Dabei ruft »Denken Sie nicht an die Coronaleugnung« das frame genau dieser Leugnung auf – um es erst danach zu negieren. So stärken Sie die anderen. Wenn Sie dagegen konsequent positiv über Vertrauen in die Wissenschaft, Zusammenhalten und Mitgefühl sprechen, sind andere gezwungen, Ihnen zu folgen. Viel Erfolg damit – unser Überleben hängt davon ab. Denn die nächsten Krisen warten schon.

12 Seiten solide Infos zum Thema Verschwörungsmythen gibt es hier im Handbuch der renommierten Forscher Lewandowsky & Cook (03/2020)


     


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Christoph Burger

 
Christoph Burger ist Diplompsychologe, Karriereberater und Coach für Persönlichkeitsentwicklung in Herrenberg bei Stuttgart. Er schreibt Bücher, Fachartikel und Blogbeiträge rund um Karriere, Ich-Entwicklung, persönliches Mindset und Framing. Er engagiert sich bei den Psychologists4future.
 

 

In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.

 

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