Im Dickicht des deutschen Weiterbildungssystems

Philipp Stiel Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Philipp Stiel, Berlin.

Was unverständlich ist, bleibt denen vorbehalten, die sich Hilfe leisten können oder sich aufgrund ihrer Qualifikation dennoch zurecht finden. Das gilt für das Steuersystem ebenso wie für die Weiterbildung.

Nur etwas, das allgemein verständlich ist, wird auch von allen genutzt. Das sollte das Leitbild sein für eine grundlegende Neuordnung der Weiterbildung in Deutschland. Denn das »Weiterbildungssystem« hat sich zu einer völlig unübersichtliche Bildungslandschaft entwickelt: Der Nutzen eines Qualifizierungsabschlusses oder eines Zertifikats ist für das Individuum kaum kalkulierbar. Die Beratungs- und Förderlandschaft gleicht einem Flickenteppich. Wohin sich Interessierte wenden, an welchen Kursen sie teilnehmen, ist eher vom Zufall abhängig als von einer systematischen Beratung oder Abwägung. Und schließlich überfordern viele Angebote, die über einen einfachen Computerkurs hinausgehen, insbesondere viele Eltern rein von den zeitlichen Anforderungen her. Zwar nehmen rein statistisch über 50 Prozent der ArbeitnehmerInnen jährlich an einer Weiterbildungsmaßnahme teil. Aber in wie vielen Fällen sich die Beschäftigten dabei wirklich substantiell weiterqualifizieren und -entwickeln, bleibt fraglich.

Es ist erstaunlich: Während der Staat die Bildungssysteme der Jugend systematisch nach Fächern und Qualifikationsniveaus durchstrukturiert und das auch im Hochschulbereich und im Berufsbildungssystem noch versucht, lässt er im Weiterbildungsbereich dem Wildwuchs freien Lauf.

Autorenangaben



Philipp Stiel engagiert sich im »DenkraumArbeit«, einem Dialogprojekt zum Wandel der Arbeitswelt des Progressiven Zentrums und der Friedrich-Ebert-Stiftung, mit dem Thema »Qualifizierung und Weiterbildung«.

Er studierte International Economics in Tübingen, Yale und Santiago de Chile und ist Referent der SPD-Bundestagsfraktion.

Selbstverständlich macht es Sinn, dass das Weiterbildungsangebot weit ausdifferenziert ist, um sich den unzähligen Tätigkeiten und Berufen anzupassen. Und es macht sicher auch Sinn, ein solches Bildungssystem durch eine vielfältige private und öffentliche Trägerlandschaft zu organisieren. Aber macht es Sinn, knapp 200 verschiedene Förderprogramme für Weiterbildung aufzulegen? Macht es Sinn, dass kaum jemand weiß, wer ein guter oder sehr guter Ansprechpartner für Weiterbildung ist?

Sicher nicht. Und deshalb braucht die berufsbezogene oder überberufliche Weiterbildung wesentlich einfachere Zugangswege. Das betrifft die Finanzierung, Beratung, Strukturierung und Anerkennung der Abschlüsse und die Zertifizierung der Angebote, aber auch die Sichtbarkeit der Orte, an denen Weiterbildung stattfindet. Nur wenn klar erkennbar ist, was es gibt, was es bringt, was es kostet und wie viel Aufwand entsteht, werden die Beschäftigten sich auch an substantielle Weiterqualifizierungen wagen.

Das ist dringend notwendig. Denn die weitere Bildung nach dem berufsqualifizierenden Abschluss und dem Berufseinstieg bleibt die stärkste Antwort auf die umfassende Digitalisierung fast aller Berufe. Wer nicht will, dass die eigene Arbeit vollständig von digitalen Geräten bestimmt oder gar ersetzt wird, muss sich stetig weiter qualifizieren und entwickeln.

Dabei soll und darf Weiterbildung nicht als ein Produkt der Angst und der Risikoverhinderung eingeordnet werden. Die berufliche Weiterbildung ist ein wichtiger Hebel, aus Deutschland eine Chancengesellschaft zu machen. Denn Weiterbildung ist für alle ab dem jungen Erwachsenenalter eine, wenn nicht die Chance zum weiteren Aufstieg. Auch deshalb ist es bestürzend, dass gerade diejenigen, die einfachere Jobs haben, deutlich weniger an Weiterbildungsangeboten teilnehmen als Besserqualifizierte.

Weiterbildung ist jedoch auch eine Antwort auf den wachsenden Wunsch junger Menschen, sich immer wieder zu verändern und sich nicht auf den einen, lebenslang ausgeübten, Beruf festzulegen. Was viele aus älteren Generationen als Prekarisierung des Arbeitsmarktes wahrnehmen, ist für viele Jüngere auch ein Stück Freiheit: Die Freiheit, sich in Praktika ausprobieren zu können, bevor man sich für einen Arbeitgeber entscheidet. Die Freiheit, sich selbstständig zu machen, in Projekten zu arbeiten. Die Freiheit, nicht Vollzeit arbeiten zu müssen. Und die Freiheit, sich und die eigenen Fähigkeiten immer wieder persönlich weiterzuentwickeln.

Damit diese Freiheit erhalten bleibt, auch jenseits und über die Berufslaufbahn hinweg, braucht es aber reale Chancen zur Weiterbildung, auf ein Zweitstudium, für eine Umorientierung. Das muss ein künftiges, einfacheres Weiterbildungssystem leisten.

In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.

 

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