Bildung 5.0: Meditation als kulturelle Praxis in der Lehre verankern
In Zeiten zunehmender Digitalisierung: Wissenschaftler der Frankfurt UAS propagieren Aufnahme von Achtsamkeitsseminaren in Curricula
Werden Bildung und Wissenschaft den Anforderungen des Menschseins im digitalen Zeitalter noch gerecht? Wie können junge Menschen fit gemacht werden für die Herausforderungen der künftigen Arbeitswelt, ohne dass der Geist auf der Strecke bleibt? Diesen Fragen begegnen die Initiatoren des »Selbstprojekts«, eines Lehr- und Forschungsprojekts an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), mit einer klaren These: Es reicht nicht aus, Schulen und Hochschulen mit I-Pads, virtuellen Klassenräumen und moderner IT-Infrastruktur auszustatten. Vielmehr muss es das Bestreben vor allem der Hochschulen sein, dass Studierende nicht nur Wissen anhäufen, sondern angesichts der Herausforderungen einer hochkomplexen Gesellschaft und der rapiden Digitalisierung eine stabile Persönlichkeit entwickeln.
Gelingen kann dies durch Implementierung von Meditation in die Lehre – als Schlüssel zur Stärkung des Selbst und der Bewusstseinsschulung. Davon ist Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich überzeugt. Der Präsident der Frankfurt UAS hat zusammen mit deren Altkanzler Dr. Reiner Frey und Prof. Dr. Gerd Döben-Henisch das Selbstprojekt zur Persönlichkeitsentwicklung an der Frankfurt UAS ins Leben gerufen. Die Erfahrungen mit Meditationsangeboten aus bislang drei Semestern werden jetzt unter dem Titel »Bildung 5.0« veröffentlicht. Der Forderung des Arbeitsmarkts nach Effizienz, Flexibilität und Schnelligkeit des idealen »Homo faber« setzen sie einen Dreiklang aus Meditation, Achtsamkeit und Reflexion entgegen. Ihre These: Nicht der funktionierende, getriebene Mensch bewältigt die Herausforderungen der gesellschaftlichen Transformation, sondern diejenige Persönlichkeit, die in den Turbulenzen der digitalisierten Gesellschaft »stehen bleiben« kann.
Stressreduzierung und Ausgeglichenheit verbinden sich mit Achtsamkeit und neuer Klarheit des Denkens: Genau diese Eigenschaften brauchen Studierende und Schülerinnen und Schüler heute nach Überzeugung von Hochschulpräsident Dievernich. »Wir glauben, dass die Besinnung auf altes kulturelles Wissen wie der Meditation im digitalen Kontext angezeigt ist und dort als neu erscheint, weil sich der Kontext, in dem sie angewandt wird, verändert hat«, erläutert er. »Genau das ist der Grundgedanke einer Bildung 5.0: Es geht um eine kluge Wiedereinführung, denn gerade jetzt braucht es Meditation, Selbstreflexion und philosophisches Denken, um sich so als komplementäre Partner gegenüber künstlicher Intelligenz, intelligenten Robotern und selbstlernenden Maschinen zu behaupten«. Dies sei notwendig, um zu verhindern, dass der Mensch künftig gänzlich zum bloßen Anhängsel von Datenströmen und Algorithmen werde.
»Schon heute droht die Digitalisierung den Menschen zu überfordern«, erklärt Döben-Henisch. »Dem Menschen wird zunehmend suggeriert, dass er schnell handeln und entscheiden muss. Nicht der Mensch nutzt die Digitalisierung, um das Leben zu vereinfachen, sondern, hart ausgedrückt, es dürfte die Digitalisierung mit den dazugehörigen Medien sein, die dem Menschen vorschreiben, wie und wann zu handeln ist. Für unser Projekt nehmen wir die Anzeichen digitaler Überforderung ernst und versuchen, durch die Einführung der Meditation einen Kontrapunkt zu setzen, um das Gefühl der Freiheit der Entscheidung über sich und sein Leben wieder bei den Studierenden zu wecken«.
Warum gerade Meditation? »Meditation ist eine Innensicht des eigenen Geistes und der Welt, die insbesondere vom Buddhismus entwickelt worden ist«, erläutert Reiner Frey, der Leiter des Lehr- und Forschungsprojekts. »Wir sehen Meditation allerdings unabhängig von ihrem Ursprung im Buddhismus als eine Methode, die völlig frei von religiösen Begründungen und Zusammenhängen verfolgt werden kann.« Es gehe dabei um die Entwicklung eines positiven Selbst und, umgekehrt betrachtet, um die Selbst-Befreiung von falschen Vorstellungen über die eigene Identität und die Welt. Dabei will Frey Meditation und Achtsamkeitsübungen nicht als reine Nabelschau verstanden wissen. »Meditation ist nicht der Rückzug nach innen«, betont er. »Nicht nur die innere, sondern auch die äußere Welt sind Gegenstand der reflexiv-achtsamen Betrachtung. Innen und außen hängen untrennbar zusammen, so dass die Veränderung des Bewusstseins nicht nur eine klarere Wahrnehmung von mir und der Welt bewirkt, sondern direkt zu einem neuen und kompetenteren Handeln führt«.
Döben-Henisch betrachtet die Möglichkeiten der Meditation durchaus pragmatisch. »Mit Meditation kann man nicht jene strukturellen Probleme der Gesellschaft lösen, die den Einzelnen im Alltag bedrücken.« Der Informatiker und Theologe verweist auf den wissenschaftlichen Ansatz des Projekts, das eben nicht den Zeitgeist bedienen wolle. »Wir führen Meditation nicht ein, weil es heute Trend ist, sondern wir haben eine Arbeitshypothese, die das Phänomen Meditation aufgreift und es in einen Kontext stellt. Dieser erlaubt es einerseits, Meditation persönlich praktizieren zu können, fordert aber andererseits auch dazu heraus, diese Praxis samt den begleitenden Erfahrungen im Licht der bisherigen Traditionen und der modernen Philosophie und Wissenschaft zu reflektieren.« Dies sei das Neue am »Frankfurter Ansatz« des Selbstprojekts; der Aspekt der Wissenschaftlichkeit soll daher im jetzigen vierten Semester noch stärker akzentuiert werden.
Frey ergänzt: »Uns ist bewusst, dass das Selbstprojekt lediglich ein Anfang, eine Anregung für den Einzelnen ist. Im Curriculum stellt das Meditationsangebot ein Modul dar, das die (weitere) Ausgestaltung des Studiums positiv beeinflussen soll.« Daher solle Meditation nicht als zusätzliches Angebot neben Hochschule und Schule stehen, sondern müsse vielmehr in die Curricula einfließen. Die positive Resonanz der bisherigen Teilnehmenden auf die Kursangebote im Rahmen des interdisziplinären Studium Generale sei sehr ermutigend.
Hintergrund
Im Oktober 2018 fand der erste von der Frankfurt UAS organisierte Kongress »Meditation und die Zukunft der Bildung" statt, der als ein Meilenstein aus dem Selbstprojekt hervorgegangen ist. Das Projekt soll in den kommenden Jahren mit neuen Veranstaltungen und Kongressen fortgeführt werden. Das am 17. Dezember 2018 erscheinende Buch »Bildung 5.0« wird von der Heraeus Bildungsstiftung gefördert.
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