Demokratiemonitor: Deutschlands Mitte wird populistischer
Ist der Populismus in Deutschland eine vorübergehende Erscheinung oder Ausdruck grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen? Ein Jahr nach der Bundestagswahl zeigt eine Untersuchung: Populistische Einstellungen nehmen zu – vor allem in der politischen Mitte. Mit Gerechtigkeitsthemen könnten die etablierten Parteien diesem Trend entgegenwirken.
Die Wählerschaft in Deutschland ist zunehmend populistisch eingestellt. Knapp jeder dritte Wahlberechtigte (30,4 Prozent) in Deutschland unterstützt laut dem neuen Populismusbarometer alle abgefragten populistischen Positionen. Das ist etwas mehr als im Vorjahr (29,2 Prozent). Gleichzeitig ist die Gruppe der eindeutig unpopulistischen Wähler auf 32,8 Prozent gesunken (2017: 36,9 Prozent). Dabei gilt: Je höher der Bildungsgrad und das Einkommen, desto weniger verbreitet sind populistische Einstellungen. Die größten Verschiebungen verzeichnet die Studie in der politischen Mitte: Hier nehmen die populistischen Einstellungen am stärksten zu und die unpopulistischen Einstellungen am stärksten ab.
Für die aktuelle Erhebung hat das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap in zwei Wellen im Mai und August 2018 jeweils rund 3.400 Wahlberechtigte zu ihren Einstellungen befragt. Im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts »Demokratiemonitor« haben das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und die Bertelsmann Stiftung die Umfrageergebnisse gemeinsam analysiert.
Anschwellender Populismus der politischen Mitte
Dass populistische Einstellungen vermehrt Zulauf erhalten, erklärt sich zu einem großen Teil aus den Umbrüchen in der politischen Mitte. Während sich an den politischen Rändern im Vergleich zu 2017 kaum Veränderungen zeigen, offenbart die Studie in der Mitte die größten Verschiebungen: Jeder achte Wahlberechtigte ist derzeit populistisch eingestellt und verortet sich gleichzeitig in der politischen Mitte. Im Vorjahr war es noch etwa jeder neunte Wahlberechtigte. Gleichzeitig ist in der Mitte die Gruppe der »Nicht-Populisten« von 13 auf 10,3 Prozent gesunken. Das sind die jeweils größten Veränderungen einer einzelnen Wählergruppe.
Wie stark die politischen Ränder vom Populismus profitieren, zeigt sich vor allem am Beispiel der Alternative für Deutschland (AfD). Mit zunehmendem Populismus steigt in der Mitte die Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen, deutlich stärker als im eher rechten Spektrum. Damit übernimmt der Populismus der AfD in der politischen Mitte eine ähnliche Mobilisierungsfunktion wie ihre ideologisch rechte Positionierung im Spektrum rechter Wähler: »Rechte wählen AfD, weil sie rechts ist. Wähler der Mitte wählen AfD, weil sie populistisch ist. Populismus ist damit das trojanische Pferd der AfD in der politischen Mitte«, erläutert Wolfgang Merkel, Demokratieforscher des WZB und Mitautor der Studie.
Mehrheit der Wahlberechtigten lehnt AfD massiv ab
Trotz der Zunahme populistischer Einstellungen gilt weiterhin: Knapp 70 Prozent der Deutschen sind gar nicht oder nicht explizit populistisch eingestellt. Hinzu kommt: 71 Prozent würden »auf keinen Fall« die AfD wählen. Das spiegeln die im Populismusbarometer 2018 erstmals erhobenen negativen Wahlabsichten. Bei den anderen Parteien liegen diese Wahlabneigungen auf deutlich geringerem Niveau: Bei CDU/CSU (29 Prozent), FDP (29 Prozent) und Grünen (31 Prozent) sind sie weniger als halb so groß wie bei der AfD. Die SPD erhält von allen Parteien die geringsten Ablehnungswerte (23 Prozent).
»Trotz steigender Umfragewerte wird keine andere Partei von den Wählern so massiv abgelehnt wie die AfD. Sie liegt mit dieser Wählerablehnung in etwa auf dem Niveau der rechtsextremen NPD«, erläutert Robert Vehrkamp. »Auch für die AfD gibt es in der Wählermobilisierung eine 'gläserne Decke' – und die hängt sehr viel tiefer als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien«, so Vehrkamp.
Sozialpolitik als Brückenthema und Mobilisierungschance
Mit welchen Themen und Positionen die etablierten Parteien auch populistisch eingestellte Menschen erreichen könnten, zeigt das Populismusbarometer anhand von Fragestellungen zu verschiedenen Sachthemen. Wie schon vor der Bundestagswahl 2017, eignet sich die Forderung nach »mehr Europa« auch 2018 zur Mobilisierung, bleibt aber von allen Parteien bislang ungenutzt.
Laut Studie sind es aber vor allem sozialpolitische Themen, wie »steuerpolitische Umverteilung« und »Wohnungsbau«, mit denen die Parteien populistische wie auch unpopulistische Wähler gleichermaßen erreichen könnten. Allein die Forderung nach »viel höheren Investitionen in den sozialen Wohnungsbau« erhöht die Zustimmung zu einem Kandidaten bei Populisten und Nicht-Populisten um jeweils 15 Prozentpunkte.
»Die sozialen Fragen sind die wichtigsten Brückenthemen für eine Gesellschaft, die sich kulturell und sozial immer tiefer spaltet. Sollten sich die etablierten Parteien nicht um diese sozialen Themen kümmern, werden die Populisten das übernehmen«, so Wolfgang Merkel.
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