Aufwachsen von Jugendlichen mit Behinderung
Gliederung
Deutschlandweite Befragung von fast 2.700 Jugendlichen mit Behinderung zeigt Vielfalt ihrer Lebenswelten
Jugendlichen mit geistiger Behinderung droht es, von der digitalen Transformation der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Und inklusiv beschulte Jugendliche erleben häufiger Ausgrenzung oder Diskriminierung in der Schule als diejenigen in Förderschulen. Dies sind zwei Ergebnisse der breit angelegten Studie »Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung«, die das Deutsche Jugendinstitut (DJI) im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung durchgeführt hat. Fast 2.700 Jugendliche mit Behinderung der siebten bis zehnten Klasse wurden hierfür deutschlandweit zu den Themenbereichen Freizeit, Freundschaften und soziale Beziehungen sowie Autonomie und Verselbstständigung befragt.
Als Hinweis auf die Form der Beeinträchtigung wurde der sonderpädagogische Förderbedarf herangezogen. Dieser gliedert sich in die Kategorien Sehen, Hören, Sprache, Lernen, körperliche und motorische Entwicklung, emotionale und soziale sowie geistige Entwicklung. Etwa ein Drittel der Teilnehmenden hat zwei oder mehr Förderbedarfe.
»Unsere Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche mit Behinderung eine heterogene Gruppe darstellen, deren Lebenssituationen sehr vielfältig sind«, betont Dr. Shih-cheng Lien, die gemeinsam mit George Austin-Cliff und Johann Hartl die Studie am DJI leitete. »Wir sehen schon an vielen Stellen einen Zusammenhang zwischen den Erfahrungen der jungen Menschen einerseits und der Form und dem Grad der Beeinträchtigung andererseits; aber auch andere Faktoren wie zum Beispiel die Wohnsituation können eine erhebliche Rolle spielen. Jugendliche, die in einem Wohnheim oder Internat wohnen, berichten häufiger als diejenigen, die mit ihrer Familie leben, dass sie zu viel Freizeit alleine verbringen; die gleiche Tendenz zeigt sich auch bei Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Schwierigkeiten im Vergleich zu Jugendlichen mit anderen Formen von Beeinträchtigung.« Um Barrieren zu erkennen und anschließend abzubauen, ist daher immer eine differenzierte Betrachtung der konkreten Lebenslagen erforderlich.
Die Baden-Württemberg Stiftung hatte die Studie in Auftrag gegeben, um Jugendliche mit Behinderung stärker in den Fokus zu rücken und erstmals eine überregionale Beschreibung von deren Lebenssituation zu erhalten. »Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse, um die Alltags-, Bildungs- und Freizeiterfahrungen junger Menschen mit Behinderung zu verbessern«, sagt Christoph Dahl, Geschäftsführer der Baden-Württemberg Stiftung. »Wir werden uns die Ergebnisse ganz genau anschauen und überlegen, wo wir programmatisch anknüpfen können.«
Jugendliche mit geistiger Behinderung sind häufig von digitaler Teilhabe ausgeschlossen
93 Prozent der Befragten sagen, dass sie ein eigenes Smartphone haben. Andere, allgemeine Jugendstudien kommen auf einen vergleichbar hohen Anteil, was nahelegt, dass dieses für soziale Teilhabe unverzichtbare Gerät genauso wie bei allen anderen auch zu einem Bestandteil des Alltags von Jugendlichen mit Behinderung geworden ist. Dennoch zeichnen sich Hürden bei der digitalen Teilhabe vor allem bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung sowie bei Jugendlichen mit mehreren Formen von Beeinträchtigung ab. Zum einen besitzen sie seltener als der Durchschnitt der Befragten ein eigenes Smartphone und sind im Internet weniger aktiv. Zum anderen wird ihr Internetverhalten häufiger von Erwachsenen überwacht. »Heutzutage setzt soziale Teilhabe digitale Teilhabe voraus, weswegen eine stärkere und differenzierte Förderung der Medienkompetenzen der Jugendlichen notwendig ist«, meint George Austin-Cliff. Um technische Benachteiligungen abzubauen, sollte zudem bei der Entwicklung neuer Hard- und Software Barrierefreiheit konsequenter mitgedacht werden, etwa durch alternative Darstellungs- und Steuermöglichkeiten.
Ausgrenzung oder Diskriminierung erfolgen häufig in der Schule
Wichtige soziale Orte Jugendlicher sind Schulen. Wenn Jugendliche mit Behinderung Ausgrenzung oder Diskriminierung erfahren, erleben sie diese meist dort. Davon sind Jugendliche in inklusiven Regelschulen häufiger betroffen als Jugendliche in Förderschulen. »Vor allem in den Regelschulen müssen Lehr- und Fachkräfte unterstützt werden, um Ausgrenzung frühzeitig zu erkennen und dem entgegenzuwirken. Auch braucht es tragfähige Schutzkonzepte, damit etwa Schülerinnen und Schüler, mit und ohne Behinderung, lernen, mit Vielfalt und Differenz umzugehen«, erklärt Johann Hartl. Zentral hierfür ist ebenfalls die Förderung einer allgemeinen Haltung, die gesellschaftliche Vielfalt wertschätzt und Menschen mit Behinderung in ihrer Gleichberechtigung anerkennt.
An Kolleginnen und Kollegen richten die DJI-Forschenden die Empfehlung, Inklusivität als Gütekriterium für das eigene Forschungshandeln anzuerkennen und bisher nicht berücksichtigte Gruppen junger Menschen künftig systematisch einzubeziehen. Sozialwissenschaftliche Jugendforschung, die den Anspruch erhebt, soziale Wirklichkeit empirisch zu beschreiben, kann davon nur profitieren. Bisher galt es beispielsweise als schwer umsetzbar, Jugendliche mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen in großer Zahl direkt zu befragen. Die Forschenden des DJI entwickelten deshalb einen Fragebogen, der in unterschiedlichen Modi angeboten und in Umfang und Komplexität angepasst werden konnte.