Deutsche unterschätzen ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen erheblich
Gliederung
Die Bevölkerung in Deutschland unterschätzt, wie ungleich Einkommen und Vermögen verteilt sind. Menschen mit höherem Einkommen und Vermögen neigen dazu, ihre finanzielle Situation relativ zum Rest der Bevölkerung zu unterschätzen. Personen mit geringem finanziellen Spielraum hingegen neigen dazu, ihre Situation im Vergleich zum Rest der Bevölkerung zu überschätzen.
Insgesamt ordnen sich also deutlich mehr Menschen in Deutschland der Mittelschicht zu als objektiv gerechtfertigt. Dadurch wird das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit in Deutschland unterschätzt. Das ist das Ergebnis einer großangelegten Umfrage des Exzellenzclusters The Politics of Inequality der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit dem Berliner Think Tank Das Progressive Zentrum. »Das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit wird von der Bevölkerung unterschätzt. Das könnte dazu führen, dass es insgesamt weniger Unterstützung für eine Politik der Umverteilung gibt«, erklärt Sharon Baute, Co-Autorin der Studie und Juniorprofessorin an der Universität Konstanz.
Die Untersuchung zeigt außerdem, dass die Befragten im Großen und Ganzen nicht zwischen der Verteilung von Einkommen und Vermögen unterscheiden, wenn sie nach ihrer relativen Position gefragt wurden. Das ist insofern bemerkenswert, als dass andere Untersuchungen deutlich zeigen, dass die Verteilung von Vermögenswerten in Deutschland noch einmal deutlich ungleicher zugunsten des wohlhabenden Teils der Bevölkerung ist als die Verteilung von Einkommen. Demnach gehören den »oberen fünf Prozent« 41,6 Prozent der gesamten Vermögenswerte (Immobilien, Wertpapiere, weitere Finanzanlagen), aber »nur« 15,8 Prozent des Einkommens. Dennoch, das zeigt die vorliegende Untersuchung, wird dies von den Befragten nur sehr eingeschränkt wahrgenommen.
Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass eine relative Mehrheit (28 Prozent) der Aussage »voll und ganz« zustimmt, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland ungleich verteilt sind. 14 Prozent gaben an, der Aussage »eher« zuzustimmen. Eine grundsätzliche Sensibilität gegenüber der ungleichen Verteilung scheint also vorzuliegen.
Größeres Gefühl der Ungleichheit im Osten Deutschlands
Bezüglich der langfristigen Entwicklung der Ungleichheit glauben 71 Prozent der Befragten, dass diese seit dem Jahr 2000 zugenommen habe. Nur 17 Prozent finden, sie habe abgenommen. Dass sie unverändert sei, glauben 12 Prozent. Danach befragt, ob die Ungleichheit in Deutschland stärker als in anderen Ländern Europas zugenommen habe, ist eine relative Mehrheit von 35 Prozent der Meinung, dass diese »etwas höher« als in anderen Ländern ist. Das kommt der Realität recht nahe: Laut Eurostat liegt die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen in Deutschland knapp über dem EU-Durchschnitt.
Die Einschätzung der Ungleichheit im Inland fällt jedoch anders aus. Im Osten Deutschlands sind mehr Menschen der Meinung, dass die Ungleichheit in Deutschland »etwas« oder »viel« höher ist als in anderen Ländern Europas (insgesamt 54 Prozent im Osten im Vergleich zu 49 Prozent im Westen). Bei der Frage zu regionalen Ungleichheiten ist der Unterschied noch größer: Hier sind im Osten 53 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Ungleichheit in ihrer Heimatregion im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands etwas oder viel höher ist – im Westen sind dies lediglich 34 Prozent.
Außerdem beschäftigten sich die Forscher*innen der Universität Konstanz mit der Frage, wie die Menschen in Deutschland die Chancen künftiger Generationen einschätzen. Gefragt wurde nach der Meinung, ob es für die Jüngeren bessere oder schlechtere Chancen gebe, gemessen auf einer 5-Punkt-Skala. Nur 32 Prozent sind der Meinung, dass sich die Chancen der jüngeren Generation »deutlich« oder »eher« verbessern. 47 Prozent sind hingegen der Meinung, dass sich die Chancen »deutlich« oder »eher« verschlechtern. Dieser Pessimismus ist nach Meinung der Forscher*innen einerseits im Lichte der Mega-Krisen der letzten Jahre verständlich, andererseits angesichts der fortschreitenden Bildungsexpansion sowie der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung erstaunlich.
AfD-Anhänger*innen haben ausgeprägten Pessimismus
Bei der Einschätzung dieser Frage gibt es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Parteipräferenz der Befragten. Die Anhänger*innen der AfD sind hinsichtlich ihrer Einschätzung der Chancen jüngerer Generationen besonders pessimistisch: 67 Prozent der Befragten mit dieser Parteipräferenz gehen von schlechten Zukunftsaussichten für die jüngere Generation aus. Darauf folgen Anhänger*innen der Linken (49,3 Prozent), der Grünen (45,3) und der SPD (44,7). Vergleichsweise optimistisch sind Anhänger*innen CDU/CSU – hier rechnen »nur« 37,1 Prozent mit schlechten Chancen – und der FDP – hier sind es 40,5 Prozent.
Empfehlungen an die Politik
Die Autor*innen der Untersuchung formulieren auf Grundlage dieser Ergebnisse zwei Empfehlungen an die Politik. Einerseits zeigen die Ergebnisse, dass viele Menschen in Deutschland ihre finanzielle Situation relativ zur Gesamtbevölkerung falsch einschätzen. »Bei den politisch aufgeladenen Debatten über Erbschafts- und Vermögensteuer etwa zeigt sich: Viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft glauben offenbar fälschlicherweise, sie seien von solchen Steuern direkt betroffen. Sie unterschätzen, wie relativ reich andere und wie relativ arm sie selbst sind«, erklärt Co-Autorin Sharon Baute. Die erste Handlungsempfehlung lautet daher, öffentliche Debatten vor allem für die besonders ungleiche Verteilung von Vermögen zu sensibilisieren und so zu einer besser informierten Wahrnehmung der Bürger*innen beizutragen.
Andererseits zeigt die Untersuchung einen weithin verbreiteten Pessimismus hinsichtlich der langfristigen Entwicklungen von Ungleichheit in Deutschland und besonders im Hinblick auf die Zukunftsaussichten jüngerer Generationen. Hier scheint es zunächst paradox, dass die Befragten das Ausmaß von Ungleichheit unterschätzen, gleichzeitig aber übermäßig pessimistisch sind, was langfristige Trends und Aussichten angeht. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man bedenkt, dass die Meinungen zu Trends und Aussichten weniger auf der tatsächlichen Lebenserfahrung der Befragten basieren, sondern häufig durch politisch motiviertes »Framing« beeinflusst werden. Die zweite Handlungsempfehlung besteht daher darin, durch eine gezielte Ausrichtung von politischen Initiativen und der begleitenden Kommunikation auf Themen wie soziale Mobilität, Zukunftschancen, Innovation und Bildung dem grassierenden Zukunftspessimismus ein gewisses Maß an Zukunftsoptimismus entgegenzusetzen.
Methode:
Die Daten der Umfrage wurden im Rahmen einer Online-Befragung der über-18-jährigen Wohnbevölkerung in Deutschland durch die Umfragefirma Kantar erhoben. Die Erhebung fand zwischen dem 14. November und 2. Dezember 2022 statt. Insgesamt nahmen 6.319 Befragte teil.
VERWEISE