IMK/IW: Herausforderungen für die Schuldenbremse

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IMK und IW Köln

600 Milliarden Euro staatliche Extra-Investitionen über 10 Jahre können öffentliche Infrastruktur und Wirtschaft zukunftsfähig machen

Der deutsche Staat muss und kann über die kommenden zehn Jahre jährlich etwa 60 Milliarden Euro gezielt zusätzlich investieren, um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen mit Blick auf Klimaschutz und Klimaanpassung, Energie- und Verkehrswende, demografischen Wandel und Digitalisierung.

Mit den insgesamt rund 600 Milliarden Euro könnten bis Mitte der 2030er Jahre nicht nur der Investitionsstau in den Kommunen aufgelöst werden, sondern auch dringend nötige Fortschritte in der Qualität der Bildungsinfrastruktur, bei Energie- und Verkehrsnetzen, Öffentlichem Verkehr sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden. Eine derartige Investitionsoffensive würde wirtschaftliche Vorteile über Jahrzehnte bringen – etwa weil eine höhere Produktivität durch bessere Bildung und effektivere Technik die geringere Anzahl an Arbeitskräften in einer alternden Gesellschaft teilweise ausgleichen kann.

Berücksichtigt sind auch kommunale Klimaanpassungsinvestitionen, die helfen können, drohende Schäden durch den Klimawandel zu begrenzen. Weil künftige Generationen von diesen Investitionen profitieren, ist es sinnvoll, diese auch über Kredite zu finanzieren. Die Regelungen zur Schuldenbremse sollten so schnell wie möglich modifiziert werden, um den notwendigen Spielraum für Kredite zu ermöglichen. Dafür liegen mit einer »Goldenen Regel« oder einem Infrastrukturfonds bereits praxistaugliche Vorschläge vor, die rasch umgesetzt werden könnten – politischen Willen vorausgesetzt.

Zu diesem Ergebnis kommen das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer neuen gemeinsamen Studie. Die Untersuchung schlüsselt auch den notwenigen Investitionsbedarf in unterschiedlichen Bereichen auf. Die Forschenden stellen die Untersuchung gestern in der Bundespressekonferenz in Berlin vor.

IMK und IW hatten den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf für die folgenden zehn Jahre 2019 schon einmal beziffert – damals auf rund 460 Milliarden Euro. In der Zwischenzeit habe es in einigen Bereichen deutliche Fortschritte gegeben, beispielsweise beim Breitbandausbau und beim Bau von Kitas, schreiben Prof. Dr. Sebastian Dullien (IMK), Prof. Dr. Michael Hüther (IW), Dr. Katja Rietzler (IMK) und Dr. Simon Gerards Iglesias (IW) in ihrer jetzt vorgelegten Aktualisierung.

Dass sich gleichwohl »die Dringlichkeit einer verstärkten öffentlichen Investitionstätigkeit in den vergangenen fünf Jahren noch einmal verschärft« habe, erklären die Ökonom*innen einerseits mit den multiplen Krisen seit 2020 und ihren Auswirkungen auf das Wachstumspotenzial: »Die gesamtwirtschaftliche Lage hat sich über die Pandemie hinweg von einer dynamischen Entwicklung zu einer hartnäckigen Stagnation gewandelt, bei der neben verstärkten Unsicherheiten über die Energieversorgung und die Energiepreise in Deutschland auch Sorgen der Unternehmen über eine demografisch bedingte Wachstumsschwäche, schwaches Produktivitätswachstum und damit einen mittel- und langfristig stagnierenden Absatzmarkt eine wichtige Rolle spielen dürften. Die Stärkung des Wachstumspotenzials ist eine zentrale Voraussetzung, um nicht nur die Stagnation zu überwinden, sondern auch, um die anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben einigermaßen spannungsfrei bewältigen zu können«, so die Forschenden.

Hinzu komme der beschleunigte Transformationsdruck, vor allem bei der Energieversorgung: »Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der anschließende Wegfall des russischen Pipeline-Erdgases als zuverlässige und kostengünstige Brückentechnologie haben erhebliche Auswirkungen auf Deutschlands Energieversorgung, Versorgungssicherheit und die Einschätzbarkeit der künftigen Energiepreise. Daher muss der Ausbau heimischer erneuerbarer Energien umso stärker priorisiert werden.«

Andererseits, so die Expert*innen, seien die Anforderungen an den Klimaschutz durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 und die resultierende Änderung des Klimaschutzgesetzes im August 2021 noch einmal deutlich gestiegen, was sich nun in erheblich höheren Investitionsbedarfen spiegelt – beispielsweise für ein Wasserstoffnetz. Mehr und mehr trete auch der Bereich Klimaanpassung in den Fokus, der 2019 noch ausgeblendet war. Und schließlich sind seitdem die Preise erheblich gestiegen, zudem habe sich die Demografie deutlich anders entwickelt als noch vor wenigen Jahren vorausberechnet: Durch die starke Zuwanderung ist die Bevölkerung in Deutschland größer und auch jünger als erwartet. Das bietet langfristig Chancen, erhöht in nächster Zeit aber den Investitionsbedarf zusätzlich, beispielsweise in Bildungseinrichtungen und Wohnungen.

»Wenn man so will, waren die vergangenen fünf Jahre Jahre der Wahrheit. 2019 sind auch wir von einer Transformation in kleineren Schritten ausgegangen, als wir das heute tun«, fasst Katja Rietzler, IMK-Expertin für Fiskalpolitik, die Rahmenbedingungen der aktualisierten Studie zusammen. Diese Verschiebung sei deutlich in den neuen Zahlen zu erkennen. »Die Investitionsbedarfe für die Dekarbonisierung, die Schieneninfrastruktur, den ÖPNV und die Klimaanpassung machen inzwischen zusammen rund die Hälfte der Investitionsbedarfe aus.«

»Die deutsche Wirtschaft steht vor gigantischen Herausforderungen«, sagt IW-Direktor Michael Hüther. »Wir brauchen jetzt Mut, um uns vom Stückwerk zu verabschieden und das Land langfristig zukunftsfähig zu machen.«

IMK-Direktor Sebastian Dullien sagt: »Vermeintlich belastbare Brücken in die Zukunft sind weggebrochen, etwa Gas als Zwischentechnologie. Wir müssen daher noch mehr tun, um unsere wirtschaftliche Basis durch Modernisierung zu sichern. Und nicht zuletzt das Leid und die Milliardenschäden durch die Flutkatastrophe 2021 haben deutlich gemacht, dass es sich lohnt, beim Klima in Prävention und Anpassung zu investieren statt in enorm teure Reparaturen. Deshalb müssen wir mehr Geld in kürzerer Frist einsetzen, obwohl zwischenzeitlich durchaus investiert wurde. Aber das kann auch Vorteile haben: Wenn wir erfolgreich Tempo machen, ist der Umbau schneller geschafft. Davon profitieren auch Wirtschaft und Beschäftigte – und natürlich auch die nächste Generation.«

Wo investiert werden muss: Kommunale Infrastruktur, Bildung, Schiene, Klimaschutz, Wohnen

Auf Basis eines breiten Kranzes von aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen der eigenen und externer Institute rechnen IMK und IW mit folgendem zusätzlichen Investitionsbedarf:

  • Angesichts der über Jahre entstandenen Lücken kalkulieren die Forscher*innen mit einem guten Drittel der zusätzlichen Investitionssumme, um den bei Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen. Gestützt auf Analysen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) veranschlagen sie dafür rund 177 Milliarden Euro über zehn Jahre. Hinzu kommen gut 13 Milliarden Euro, mit der die Klimaanpassung in Städten und Gemeinden vorangetrieben werden soll, etwa zum Schutz gegen Starkregen und Hitze.
     
  • Rund 200 Milliarden Euro über zehn Jahre veranschlagen die Fachleute für öffentliche Investitionen in Klimaschutz. Als größten Einzelposten machen sie die energetische Gebäudesanierung aus. Weitere wichtige Aufgaben sind der Netzausbau für Strom und Wasserstoff, Wärmenetze, weitere Erzeugungs- und Speicherkapazitäten für Erneuerbare Energien sowie die Förderung von Energieeffizienz und Innovationen.
     
  • Rund 127 Milliarden Euro sollten zusätzlich in Verkehrswege und ÖPNV investiert werden: Knapp 60 Milliarden Euro, um das Schienennetz zu modernisieren und zu erweitern, weitere gut 28 Milliarden, um den Öffentlichen Personennahverkehr auszubauen. Mit 39 Milliarden Euro sollen die Rückstände bei der Instandhaltung von Fernstraßen abgebaut werden.
     
  • Als vierten großen Posten nennen die Wissenschaftler*innen einen Investitionsbedarf von knapp 42 Milliarden Euro für eine bessere Bildungsinfrastruktur. Davon sollten rund sieben Milliarden in den Ausbau von Ganztagsschulen fließen. Weitere knapp 35 Milliarden Euro müssten bereitgestellt werden, um den Sanierungsbedarf an Hochschulen abzudecken. Hier wie in allen anderen Bereichen gilt: Die veranschlagten Investitionskosten decken nicht die laufenden Betriebskosten von modernisierten oder neu geschaffenen Kapazitäten ab, die in der jährlichen öffentlichen Finanzplanung berücksichtigt werden müssen. So braucht es etwa für neue und bessere Ganztagsschulen auch zusätzliches pädagogisches Personal.  
     
  • Schließlich sehen IMK und IW zusätzlichen Investitionsbedarf, um den Wohnungsmangel in vielen deutschen Großstädten zu mildern. Über zehn Jahre sollen daher zusätzlich knapp 37 Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau fließen.

Finanzierungsspielräume schaffen: Investitionen von Verschuldungsverboten freistellen oder Infrastrukturfonds

Auch wenn der Betrag von knapp 600 Milliarden Euro über zehn Jahre gigantisch erscheint: Im Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung sei der zusätzliche Finanzbedarf von jährlich rund 60 Milliarden Euro oder rund 1,4 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) »eine überschaubare Größenordnung«, schreiben die Forschenden. Es sei zwar unrealistisch, diese Summen durch Umschichtungen oder Kürzungen in den öffentlichen Haushalten zusammenzubekommen, eine Kreditfinanzierung der Zukunftsinvestitionen daher unumgänglich, das sei aber auch sinnvoll und mache sich bezahlt: Wenn man die in der wissenschaftlichen Literatur üblicherweise veranschlagten Wachstumseffekte von Ausgaben für Infrastruktur oder Bildung einberechne, »so ist bei einer solchen kreditfinanzierten Investitionsoffensive mittel- bis langfristig sogar mit einer niedrigeren Schuldenquote zu rechnen als ohne eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen«, betonen die Ökonom*innen. Und selbst wenn man den irrealen Fall konstruiere, dass die Investitionen keinerlei zusätzliches Wachstum brächten, sei die Verschuldung tragbar: Denn sogar dann falle der von Wirtschaftsforschenden prognostizierte Wachstumstrend der deutschen Wirtschaft stark genug aus, damit die öffentliche Schuldenquote im Verhältnis zum BIP weiter sinke und in absehbarer Zeit unter die EU-Grenze von 60 Prozent falle.

Blockiert wird der Umstieg auf einen ambitionierten Investitionskurs über die nächste Dekade hingegen durch die schematischen deutschen und teilweise auch europäischen Schuldenregeln, so die gemeinsame Analyse von IMK und IW. Dass diese aus der Zeit gefallen seien, sei, auch im Vergleich zu 2019, zunehmend Konsens in der Wirtschafswissenschaft und zum Teil auch der Wirtschaftspolitik. Mittlerweile würden »eine Reihe von möglichen Lösungen diskutiert«, um die Schuldenbremse zu reformieren und den notwendigen finanziellen Spielraum zurückzugewinnen.

Ein Lösungsansatz wäre ein großvolumiger Infrastrukturfonds, der, wie das Sondervermögen für die Bundeswehr, von der Schuldenbremse ausgenommen wäre. Als Variante dazu könnten Unternehmen in öffentlichem Eigentum die Aufgabe der Investitionsfinanzierung übernehmen. Alternativ könnten die Schuldenbremse und der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt durch eine »Goldene Regel« ergänzt werden. Diese würde Investitionen von der geltenden Neuverschuldungsbegrenzung ausnehmen. Eine entsprechende Regelung hatte der Sachverständigenrat bereits 2007 angeregt.

Aus makroökonomischer Sicht sei die genaue institutionelle Ausgestaltung eines erhöhten Spielraums für kreditfinanzierte öffentliche Investitionen zweitrangig, schreiben die Wissenschaftler*innen. Wichtig sei dagegen dreierlei: »Erstens darf mit zusätzlichen Investitionen möglichst wenig Zeit verloren werden, da die Gefahr besteht, dass sich die Stagnationstendenzen der deutschen Wirtschaft weiter verfestigen und zudem die Kosten der Dekarbonisierung angesichts sich verringernder Zeit bis 2045 merklich erhöhen. Zweitens sollte möglichst durch überjährige Planung der Investitionsvorhaben Planungssicherheit sowohl für jene geschaffen werden, die die Investitionen nutzen, als auch für Unternehmen, die potenziell mit dem Aufbau der Infrastruktur beauftragt werden.« Und drittens sollte beachtet werden, dass zwar grundsätzlich alle identifizierten Ausgaben über einen Fonds beziehungsweise eine Kreditaufnahme durch die »Goldene Regel« ermöglicht werden könnten, »die laufenden Ausgaben der Nutzung und Bewirtschaftung aber über die regulären Haushalte abzuwickeln sind.«

Bibliographie:
Sebastian Dullien, Simon Gerards Iglesias, Michael Hüther, Katja Rietzler:
Herausforderungen für die Schuldenbremse: Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation. IMK Policy Brief Nr. 168, Mai 2024.


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