OECD: Internationaler Migrationsausblick 2016
Politik muss auf die wachsende Ablehnung von Migration reagieren
Die OECD-Länder müssen auf die wachsende Ablehnung von Migration reagieren, indem sie ihre Integrationspolitik verstärken und gleichzeitig die internationale Zusammenarbeit ausbauen. Angst vor ungesicherten Grenzen, Flüchtlingen, die lokale Dienstleistungen strapazieren, und Migranten, die den Werten ihrer Aufnahmeländer feindlich gesonnen sind, haben die Einstellung gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern vielfach ins Negative verkehrt.
Die diesjährige Ausgabe des Internationalen Migrationsausblicks fordert eine systematische und koordinierte Antwort, um den wachsenden Befürchtungen entgegenzutreten.
Wichtigste Entwicklungen
Vorläufige Daten deuten darauf hin, dass die dauerhafte Zuwanderung im OECD‑Raum 2015 das zweite Jahr in Folge stark gestiegen ist. Etwa 4,8 Millionen Menschen sind 2015 mit dem Ziel, dort dauerhaft zu bleiben, in OECD‑Länder eingereist. Dies sind etwas mehr als der 2007 erreichte Höchststand und 10% mehr als 2014.
Auf den Familiennachzug und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union entfielen jeweils rd. 30% der dauerhaften Zuwanderung im OECD‑Raum. Die Zuwanderung aus Rumänien, Bulgarien, Italien und Frankreich ist 2014 drastisch gestiegen. Jeder dritte Neuzuwanderer im OECD‑Raum stammt aus einem anderen OECD‑Land. Jeder zehnte Zuwanderer stammt aus China, und jeder zwanzigste aus Indien.
Die zeitlich befristete Zuwanderung hat ebenfalls zugenommen. Die konzerninterne Entsendung von Arbeitnehmern und die Entsendung von Arbeitnehmern innerhalb der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone ist 2014 um 17% bzw. 38% gestiegen. In mehreren Ländern wurden verstärkt Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland angeworben.
2015 erreichte die Zahl der neu registrierten Asylsuchenden im OECD‑Raum mit 1,65 Millionen einen Rekordstand. Fast 1,3 Millionen von ihnen sind in europäische OECD‑Länder eingereist. Bei rd. 25% der Antragsteller handelte es sich um Syrer, weitere 16% stammten aus Afghanistan. In Deutschland gingen 2015 440 000 formelle Asylanträge ein, und die Zahl der Erstregistrierungen von Asylsuchenden belief sich auf über eine Million. In Schweden gingen die meisten Asylanträge im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ein (1,6%).
2015/2016 kam es im OECD‑Raum nicht zu wesentlichen Änderungen der Migrationspolitik. In Kanada wurde 2015 allerdings ein neues System für die Bearbeitung der Einreiseanträge von Wirtschaftsmigranten eingeführt. In Europa wurde 2015 die „Europäische Migrationsagenda“ beschlossen und umgesetzt, was durch weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen und Bewältigung der Folgen des jüngsten Anstiegs der Zuwanderung sowie zur Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems ergänzt wurde. 2016 unterbreitete die Europäische Kommission Vorschläge für Änderungen der Hochqualifizierten‑Richtlinie (Blaue Karte EU) sowie der Bestimmungen über die Entsendung von Arbeitnehmern in der EU.
Im Zeitraum 2011‑2015 sind die Beschäftigungsquoten der Zuwanderer in den meisten OECD‑Ländern unverändert geblieben oder leicht gesunken, die Arbeitslosenquoten der Migranten verharrten jedoch in vielen Ländern auf hohem Niveau. Im OECD‑Durchschnitt sind rd. 60% der Zuwanderer beschäftigt (im Vergleich zu 64,9% der im Inland Geborenen). Ihre Arbeitslosenquote liegt bei 9,3% (im Vergleich zu 7,3% für die im Inland Geborenen).
In den von der Flüchtlingskrise am stärksten betroffenen Ländern wurden die Integrationsmaßnahmen für Asylsuchende und Flüchtlinge ausgeweitet. In Österreich, Finnland, Deutschland, Norwegen und Schweden stiegen die Ausgaben für Bildung und Sprachkurse. Mehrere Länder reduzierten die Wartezeiten für den Arbeitsmarktzutritt oder erleichterten den Zugang zu Sprachkursen und Kompetenzfeststellungsverfahren.
Effekt der Zuwanderung auf lokaler Ebene
Ein Großteil der empirischen Evidenz zu den Auswirkungen, die die Zuwanderung auf die Aufnahmeländer hat, bezieht sich auf die nationale Ebene, obwohl dieser Effekt auf lokaler Ebene am stärksten zum Tragen kommt. Es ist schwer, hierzu allgemeine Aussagen für alle Bereiche – Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnungsbau usw. – zu treffen. Welche Auswirkungen die Zuwanderung auf lokaler Ebene hat, ist normalerweise von den sozioökonomischen Merkmalen der einzelnen Migranten abhängig. Vorliegende Daten zeigen beispielsweise, dass Zuwanderer Gesundheitsdienste im Allgemeinen weniger in Anspruch nehmen als im Inland Geborene, dafür aber öffentliche Verkehrsmittel stärker nutzen. In der Schule benötigen Kinder von Zuwanderern, insbesondere wenn sie erst vor kurzem eingereist sind, häufig mehr Unterstützung, weshalb die Kosten je Schüler in ihrem Fall höher sind, vor allem wegen der Sprachförderung.
Ein plötzlicher starker Migrantenzustrom kann langjährige strukturelle Probleme in der lokalen Infrastruktur verschärfen, und es kann dauern, bis die Anpassung an den gestiegenen Bedarf erfolgt ist. Wenn erkannt wird, dass die Zuwanderung nicht die eigentliche Ursache solcher Schwierigkeiten ist, so ist dies ein erster Schritt auf dem Weg zur Versöhnung einer häufig negativ eingestellten öffentlichen Meinung mit den Fakten.
Migration infolge ökologischer und geopolitischer Schocks
Ökologische und geopolitische Schocks lösen häufig große Migrationsbewegungen aus, die die legalen Zuwanderungs‑ und Schutzsysteme erheblich unter Druck setzen können.
Die Erfahrung zeigt, dass die OECD‑Länder zeitlich befristete Aufnahmeprogramme für Menschen aus Konfliktzonen oder von Naturkatastrophen betroffenen Ländern einrichten. In einigen OECD‑Ländern gibt es umfangreiche Resettlement‑Programme für Opfer geopolitischer Schocks, der befristete und subsidiäre Schutz bleibt jedoch die üblichste Antwort auf einen sprunghaft steigenden Zustrom von Asylsuchenden, auch im Fall der aktuellen Flüchtlingskrise. Andere Zuwanderungskanäle wie die Arbeitsmigration, Auslandsstudien und der Familiennachzug oder auch humanitäre Visa und privat finanzierte Aufnahmeprogramme („Private Sponsorship“) sind nicht Teil der üblichen Antwort auf steigende Flüchtlingszahlen, auch derzeit nicht.
Der diesjährige Migrationsausblick weist darauf hin, dass eine effektive internationale Zusammenarbeit nicht selbstverständlich ist, dass länger anhaltende Krisen den Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit einer dauerhaften Lösung und der allgemeinen Präferenz für kurzfristige Schutzmaßnahmen verschärfen und dass das Prinzip der Selektion, ein wichtiges Merkmal der meisten Zuwanderungssysteme, innerhalb eines internationalen Schutzrahmens neu durchdacht werden muss.
Wichtigste Ergebnisse
Die Migration nimmt zu und hat wieder ihr Niveau der Zeit vor der Wirtschaftskrise erreicht
- 2014 sind 4,3 Millionen Menschen mit dem Ziel der dauerhaften Niederlassung in OECD‑Länder eingereist (4% mehr als 2013). Vorläufigen Angaben zufolge erhöhte sich diese Zahl 2015 um rd. 10%.
- Die im Ausland geborene Bevölkerung belief sich in den OECD‑Ländern 2014 auf 120 Millionen.
- 2015 gingen in den OECD‑Ländern 1,65 Millionen Asylgesuche ein, doppelt so viele wie 2014 und 1992.
- 2013 belief sich die Zahl der in OECD‑Ländern eingeschriebenen internationalen Studierenden auf fast 3 Millionen. 23% davon kamen aus China.
Der Effekt der Zuwanderung auf lokaler Ebene sollte nicht unterschätzt werden
- In allen OECD‑Ländern sind Zuwanderer in städtischen Räumen überrepräsentiert.
- Der Effekt der Zuwanderung auf öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen hängt von den relativen Merkmalen der Zuwanderer im Vergleich zu denen der im Inland Geborenen sowie von den jeweils betrachteten Infrastruktur‑ und Dienstleistungsangeboten ab. Ein starker Migrantenzustrom kann zu einer Belastung für die lokale Infrastruktur werden. Doch selbst wenn die Zuwanderung strukturelle Probleme verschärft, ist sie im Allgemeinen nicht die eigentliche Ursache solcher Schwierigkeiten.
Die Reaktion der Zuwanderungspolitik auf geopolitische und ökologische Schocks könnte verbessert werden
- Die Palette internationaler Instrumente zur Bewältigung von Migrationsströmen, die durch Schocks ausgelöst werden, ist begrenzt.
- Trotz der konkreten Herausforderungen der Einrichtung alternativer Programme für Flüchtlinge könnte deren Potenzial gemessen an der Zahl derer, die sie nutzen könnten, erheblich sein, wie die Syrienkrise zeigt.
- Im OECD‑Raum wurden in den vergangenen fünf Jahren 18 200 Arbeitsgenehmigungen für Syrer ausgestellt (insgesamt mussten fast zwei Millionen Syrer im Alter von 18 bis 59 Jahren in Nachbarländer flüchten). Etwa 15 300 junge Syrer konnten über Studentenvisa in den OECD‑Raum einreisen (dies entspricht weniger als 10% der zur Flucht gezwungenen Studierenden syrischer Hochschulen), und mehr als 72 000 Syrer kamen im Rahmen des Familiennachzugs.
QUELLE: OECD (International Migration Outlook 2016)