Arme Kinder, schlechte Schulen

(Geschätzte Lesezeit: 2 - 4 Minuten)
Schulklasse

WZB-Studie zeigt Zusammenhang von sozialer Mischung und Schulqualität 

Lehrermangel, Unterrichtsausfall, Vertretungsstunden – mit diesen Problemen kämpfen in Berlin besonders Schulen in sozialen Brennpunkten. Obwohl schon lange zusätzliche Mittel an Schulen fließen, in denen besonders viele Kinder aus einkommensschwachen Haushalten lernen, ist die Qualität dieser Schulen messbar schlechter als die von Schulen mit einer günstigeren sozialen Zusammensetzung.

Das zeigt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), die am Beispiel von Berlin untersucht hat, wie die soziale Mischung an einer Schule und deren Qualität zusammenhängen.

Die Autoren Marcel Helbig (WZB) und Rita Nikolai (Humboldt-Universität zu Berlin) kommen zu dem Schluss, dass gerade die sozial benachteiligten Schulen unter den schwierigsten Bedingungen arbeiten. Um die soziale Lage einer Schule zu bestimmen, wird der Anteil der Schüler ermittelt, die von den Lernmitteln befreit sind. Die Lernmittelbefreiung dient als Indikator für Einkommensarmut der Eltern. Die Schulqualität untersuchte das Forscherteam anhand von vier Merkmalen: dem Lehrermangel, der sich in der Unterrichtsabdeckung widerspiegelt, dem Unterrichtsausfall, dem Anteil an Vertretungsstunden sowie dem Anteil von Quereinsteigern am Lehrkörper. Erstmals wurden auch die Schulinspektionsberichte einbezogen, die die pädagogische Qualität des Unterrichts bewerten. Die verwendeten Daten stammen aus den Schuljahren 2010/11 bis 2016/17.

Für die Unterrichtsabdeckung zeigt die Studie zum einen, dass nur rund die Hälfte der Schulen eine Unterrichtsabdeckung von 100 Prozent erreicht – die Zahl der Lehrkräfte also dem entspricht, was rechnerisch für den Unterricht an einer Schule benötigt wird. Zum anderen wird deutlich, dass die Unterrichtsabdeckung vor allem an den Grundschulen mit der sozialen Lage zusammenhängt. So erreichen bei sozial privilegierten Grundschulen (unter 10 Prozent lernmittelbefreiter Kinder) 55 Prozent eine 100-prozentige Unterrichtsabdeckung, bei sozial benachteiligten (ab 50 Prozent lernmittelbefreiter Kinder) nur 35 Prozent.

Mit einer schlechter werdenden sozialen Zusammensetzung an einer Schule steigt auch der Anteil der Schulstunden, die nicht von der regulären Lehrkraft unterrichtet werden. So müssen an sozial privilegierten Grundschulen knapp 10 Prozent aller Schulstunden vertreten werden, an Schulen mit 70 Prozent lernmittelbefreiter Schüler sind es 14,5 Prozent (siehe Grafik). »Wenn ein Lehrer eine Schulstunde vertreten muss, kann er selten dort ansetzen, wo seine Kollegin in der letzten Stunde aufgehört hat. Stunden, die vertreten werden müssen, können daher nicht so effektiv sein wie regulärer Unterricht«, sagt WZB-Forscher Marcel Helbig. Soziale Unterschiede bei den Ausfallstunden zeigen sich hingegen bei den Sekundarschulen. An sozial benachteiligten Schulen fallen 50 Prozent mehr Schulstunden aus als an sozial privilegierten Sekundarschulen.

Besonders ungleich sind die Quereinsteiger – Lehrkräfte ohne abgeschlossene pädagogische Ausbildung – über die Berliner Grundschulen verteilt. So ist ihr Anteil an Schulen mit mehr als 70 Prozent Kindern aus armen Haushalten 2,3-mal so hoch wie an jenen, an denen nur jedes zehnte Kind von den Lernmitteln befreit ist:

 

Unterricht an Berliner GS

 

Die vom Autorenteam ausgewerteten Schulinspektionsberichte zeigen vor allem für die Sekundarschulen, dass die Qualität des Unterrichts mit der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft korrespondiert. So schneiden Sekundarschulen mit vielen Kindern aus Familien, die staatliche Transferleistungen beziehen, schlechter ab – bei der Unterrichtsgestaltung, der Individualisierung von Lernprozessen, den Schulergebnissen und der Schulkultur, also der Beteiligung von Schüler*innen und Eltern.

Auffällig ist, dass gerade die Schulen, die den höchsten Anteil armer Kinder (70 Prozent und mehr) haben, nicht immer am schlechtesten abschneiden. Am ungünstigsten stellt sich die Situation eher an Schulen dar, deren Anteil lernmittelbefreiter Kinder zwischen 40 und 70 Prozent liegt. »Wir vermuten, dass die sozial am stärksten benachteiligten Schulen mehr Aufmerksamkeit und mehr Unterstützung durch Programme der öffentlichen Hand, aber auch der Zivilgesellschaft erfahren«, erklärt Rita Nikolai.

Die Ergebnisse haben nach Auffassung des Forscherteams über Berlin hinaus Bedeutung. In vielen Städten gibt es mittlerweile Schulen, an denen über die Hälfte der Kinder aus Haushalten kommen, die von staatlichen Transferleistungen leben. Anders als Berlin haben einige Bundesländer bislang keine Programme für die sogenannten Brennpunktschulen aufgelegt. Zudem liegt Berlin beim Lehrermangel vorne. »In den ostdeutschen Bundesländern werden in den nächsten 15 Jahren 60 Prozent aller Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in Rente gehen. Ihre Stellen werden an Schulen in sozialen Brennpunkten, aber auch auf dem Land besonders schwer nachzubesetzen sein«, prognostiziert Marcel Helbig.

Hintergrund
Marcel Helbig ist Professor für Bildung und soziale Ungleichheit am WZB und an der Universität Erfurt.
Rita Nikolai ist Heisenberg Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

   

 

HubbS – Ein digitaler Hub zur Stärkung beruflicher Schulen
Am 5. November 2024 ging HubbS, eine innovative Plattform für Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen in Deutschland, online. Sie bietet ein umfassendes Informations- und Interaktionsangebot, das den Austausch, die Weiterentwicklung und die...
Schulentwicklung in herausfordernden Lagen – evidenzbasiert und auf Augenhöhe
Im Rahmen des Forschungsverbunds in der Bund-Länder-Initiative »Schule macht stark« (SchuMaS) ist eine erste wissenschaftliche Publikation erschienen. Sie gibt einen detaillierten Überblick über die bisherigen Arbeitsergebnisse und formuliert...
Zukunftsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems: Sechs Schritte zur Erneuerung
Die Vision eines zukunftsfähigen deutschen Wissenschaftssystems ist klar umrissen: attraktiv, resilient, dynamisch, flexibel und kreativ. In ihrem gemeinsamen Papier »Veränderungen wagen: Neue Impulse für ein Hochschul- und Wissenschaftssystem der...

Die fünf meistgelesenen Artikel der letzten 30 Tage in dieser Kategorie.

 

  • »Mein Bildungsraum« in der Kritik

    Kurzbesprechung des Artikels »Digitalisierung: Großprojekt des Bundes "Mein Bildungsraum" in der Kritik« von Dorothee Wiegand Der Artikel von Dorothee Wiegand (veröffentlicht auf heise.de) bietet einen umfassenden Überblick zum BMBF-Projekt »Mein...

  • Informatikunterricht in Deutschland: Große Fortschritte, aber noch viel zu tun

    Informatik-Monitor 2024/25: Fortschritte und Herausforderungen  Im Schuljahr 2024/25 werden fast drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler Informatik als Pflichtfach belegen. Das geht aus dem aktuellen Informatik-Monitor 2024/25 hervor, den die...

  • Bildungsplattform »Mein NOW«: Potenzial ungenutzt

    Portal »mein NOW«: Kritik an Usability und Zielgruppenansprache Die Bildungsjournalistin Gudrun Porath hat in einer Kolumne auf Haufe.de das Online-Portal »mein NOW« kritisch beleuchtet und kommt zu dem Schluss, dass die Weiterbildungsplattform »hinter den...

  • Anhörung zum AFBG: Experten für die Förderung beruflicher Weiterbildung

    Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes (AFBG), der insbesondere der Stärkung der beruflichen Weiterbildung und Fachkräftesicherung dienen soll, ist bei einer öffentlichen...

  • Fünf Wege zu mehr Flexibilität: Empfehlungen für die nachschulische Bildung

    Übergänge in Ausbildung und Studium - Wie die Politik in Zeiten des Fachkräftemangels nachschulische Bildung gestalten muss Expert*innen plädieren für mehr Flexibilität in der nachschulischen Bildung Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor einer großen...

 

 

.