Kleine Schritte auf dem Weg zur Inklusion
Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Fachleute diskutieren in Berlin über inklusive Bildung in Deutschland
2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Zehn Jahre später zeigt sich, dass die Bundesrepublik ihrem Ziel, alle Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, nur in kleinen Schritten näher kommt. Am Vorabend des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung diskutieren am 2. Dezember Expertinnen und Bildungspraktiker bei einer Veranstaltung der Deutschen UNESCO-Kommission und der Aktion Mensch in Berlin, wo die inklusive Bildung in Deutschland heute steht.
»Inklusive Bildung ist ein Grundrecht, sie muss selbstverständlich sein«, sagt Jürgen Dusel, der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen. »Es geht dabei nicht nur ums Lernen, sondern auch um soziale Interaktion, um Respekt, Partizipation, um Mitwirkung, um die aktive Gestaltung des eigenen Lebens. Das gilt für alle Schülerinnen und Schüler – ob mit oder ohne Behinderung«, unterstreicht Dusel. »Schule hat die wichtige Aufgabe, Kindern den Wert einer demokratischen Gesellschaft zu vermitteln. Und genau das brauchen wir heute mehr denn je. Zu einer guten Demokratie gehört, Vielfalt und Inklusion als Bereicherung zu sehen und auch zu leben. Demokratie braucht Inklusion«.
Gemeinsames Lernen nicht die Regel
Zwar sank im Bundesschnitt die Quote der Schüler*innen, die Förderschulen besuchen, von 4,9 Prozent im Schuljahr 2008/2009 auf 4,3 Prozent im Schuljahr 2017/2018, doch noch immer lernt die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf separiert, statt den Unterricht an allgemeinen Schulen zu besuchen.
»Auch wenn sich seit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland bei der inklusiven Bildung schon viel getan hat, fällt die Bilanz ernüchternd aus«, betont Ute Erdsiek-Rave, Vorsitzende des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission. »Die Verhältnisse in Deutschland klaffen weit auseinander. Das ist weder für Eltern noch Kinder hinnehmbar. Sie sollten nicht um ihr Recht auf gute Bildung kämpfen müssen«, so Erdsiek-Rave.
»Wir müssen für Strukturen sorgen, damit Kinder gemeinsam lernen können und dadurch Begegnungen möglich werden«, erklärt Christina Marx, Leiterin des Bereichs Aufklärung bei der Aktion Mensch. »Denn wenn Kinder mit und ohne Behinderung von Anfang an gemeinsam lernen und aufwachsen, entstehen Vorurteile im Erwachsenenalter gar nicht erst«, macht Marx deutlich.
Bereits im Sommer hatte der Expertenkreis Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission Empfehlungen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems vorgelegt. Darin fordern die Fachleute unter anderem, regionale und lokale Netzwerke für inklusive Bildung zu schaffen, die Qualität der Bildungsinfrastruktur künftig durch bundesweite Standards abzusichern und multiprofessionelle Teams von pädagogisch, psychologisch und therapeutisch geschultem Personal strukturell an Schulen zu verankern.
Hintergrund
Seit 1992 erinnern die Vereinten Nationen jährlich am 3. Dezember mit einem Internationalen Tag an die besondere Situation und die Rechte von Menschen mit Behinderung. Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und trat am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft. Die UN-Konvention fordert die Inklusion von Menschen mit Behinderung, also ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderung zu gewährleisten und inklusive Bildung zu verwirklichen.
Inklusive Bildung bedeutet, dass alle Menschen an qualitativ hochwertiger Bildung teilhaben und ihr Potenzial voll entfalten können. Ein inklusives Bildungssystem ist Kernelement chancengerechter Bildung, wie sie von den Vereinten Nationen in der Agenda Bildung 2030 (Ziel 4 der Globalen Nachhaltigkeitsagenda) gefordert wird.
LINKS