Wie können Schule und Elternhaus in Corona-Zeiten zusammenarbeiten?

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Offener Brief an den Landeselternrat NRW  
von Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen

Durch die Einschränkungen der öffentlichen Kontakte und Schulschließungen stehen die Eltern von Schulkindern vor einer riesigen Herausforderung. Berufsleben, Privatleben, Haushaltführung, Essenzubereitung und zusätzlich noch Erziehung und Bildung, in vielen Familien auch Pflege von Angehörigen – alle diese Aktivitäten auf einmal müssen Mütter und Väter im meist engen Raum der Familie bewältigen. Immer mehr Mütter und Väter kommen hierdurch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Der bisherige Tagesrhythmus ist weg, damit auch die Rituale und Rhythmen, die dem Tag Struktur und Sinn gegeben haben. Das »soziale System Familie« gerät psychisch und gesundheitlich unter Druck.

Besonders schwierig ist aber die Unterstützung des Lernens der Schulkinder. Schon im normalen Alltag vor Corona war das eine Herkulesarbeit, die nicht selten in Streit, Frust und Enttäuschung endete. Wenn jetzt die Eltern faktisch die Hauptverantwortung für das tägliche Lernen der Kinder haben, und diese dabei auch noch maßgeblich beim schulischen Lernen unterstützen müssen, dann verstärkt dies den Druck, und es kommt unvermeidlich zu Spannungen zwischen Schule und Elternhaus.

Eine vor Kurzem veröffentlichte Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung und der ZEIT macht deutlich, dass auch auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer große Irritation herrscht. Die befragten Lehrkräfte schätzen, dass über ein Viertel der Schülerinnen und Schüler eine für den »Fernunterricht« unzureichende technische Ausstattung hat. Fast genauso viele beklagen eine unzureichende Kommunikation mit Eltern und Schülern, fehlenden persönlichen Kontakt und mangelnde Möglichkeiten der Hilfestellung. Viele Lehrkräfte geben zu, den Kontakt zu einigen ihrer Schülerinnen und Schülern ganz verloren zu haben. Die große Mehrheit der befragten Lehrerinnen und Lehrer geht davon aus, dass die Schulschließungen zu deutlichen Lernrückständen führen und sich die Bildungungleichheiten weiter verstärken werden.

Wir möchten die Arbeit der Elternschaft in Nordrhein-Westfalen mit diesem Offenen Brief unterstützen. Hierzu haben wir auf der Basis wissenschaftlicher Studien acht Orientierungspunkte zusammengetragen, die Ihnen als Grundlage für Forderungen der Elternvertretungen auf Landesebene dienen können:

1. Es gehört zu den bitteren Wahrheiten, dass es nicht möglich sein wird, den Schulbetrieb in den nächsten Wochen in der bis Ende Februar gewohnten Routine wieder aufzunehmen. Unterricht für alle mit Hunderten von Kindern, die zum gleichen Zeitpunkt ein Schulgebäude betreten und in einem Klassenraum zusammenarbeiten – das wird es für den Rest dieses Schuljahres an keiner Schule geben. Die räumlichen und hygienischen Bedingungen sind einfach nicht vorhanden. Die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Die Schulen müssen völlig neue Regeln für den Präsenzunterricht entwickeln und werden Zeit brauchen, um sie erproben und umsetzen zu können.

2. Daraus folgt: Das laufende Schuljahr ist praktisch verloren. Rückstände in den Lehrplänen sind in der noch verbleibenden Zeit bis zu den Sommerferien nicht mehr aufzuholen. Die Kultusminister haben beschlossen, die Abschlussprüfungen am Ende der Mittel- und Oberstufe durchzuführen, aber darüber hinaus wird es keinen regulären Unterricht mit Erfüllung der Lehrpläne geben können. Das sollte Eltern und Schulkindern deutlich kommuniziert werden, damit sich niemand unter Druck gesetzt fühlt. Für die Übergänge an die weiterführenden Schulen müssen entsprechend pragmatische Notlösungen gefunden werden. Die Abschlusszeugnisse des laufenden Schuljahres sollen ausgestellt werden, sich aber im Wesentlichen an denen des Halbjahres orientieren.

3. Die Schulen und die Lehrerkollegien sollten schnellstens auf eine Arbeitsweise vorbereitet werden, die Präsenzunterricht und Fernunterricht flexibel kombiniert. Um die künftig zu erwartenden begrenzten Kapazitäten im Präsenzunterricht optimal zu nutzen, bedarf es pragmatischer Blended-Learning-Konzepte, die Präsenzunterricht in der Schule (in kleinen Gruppen, im Schichtbetrieb usw.) und digitales Lernen (»E-Learning«) überwiegend zuhause miteinander kombinieren. Einige wenige Schulen haben hiermit bereits Erfahrung, auch in der Hochschul- und Weiterbildung gibt es viele bereits bewährte Muster hierfür. Alle Schulen sollten jetzt darin unterstützt werden, digitale Klassenzimmer und Lernumgebungen schaffen, die den aktuellen Standards und Möglichkeiten des E-Learnings gerecht werden. Auch wenn digitales Lernen den Präsenzunterricht niemals ersetzen kann, so sollten dennoch alle Potentiale des E-Learnings ausgeschöpft werden. Hierzu brauchen die Schulen fachliche Unterstützung und Beratung und die Schülerinnen und Schüler pädagogische Begleitung durch die Lehrkräfte. Bisherige Erfahrungen mit dieser Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht zeigen deutlich, dass hiermit sehr gute Erfolge erzielt werden können, die die des reinen Präsenzunterrichts meist sogar übersteigen.

4. Die Gleichheit der Bildungschancen muss schnellstens wieder hergestellt werden. Dazu gehört eine systematische Elternarbeit, also die Einbeziehung der Mütter und Väter in den Lernprozess ihrer Kinder. An der funktionierenden Kommunikation zwischen Lehrern und Eltern mangelt es bei den sozialen benachteiligten Kindern ganz besonders. Bloße Bereitstellung schriftlicher Aufgaben – wie sie derzeit an vielen Schulen in NRW, wie auch in anderen Bundesländern, gängige Praxis ist – delegiert einen nicht unerheblichen Teil der Wissens- und Kompetenzvermittlung an die Eltern. In der Konsequenz werden ungleiche Bildungschancen nicht nur zementiert, sondern verstärkt und Konflikte in den Familien verschärft.

5. Als Reaktion hierauf sollte die Umsetzung des Digitalpakts beschleunigt und die Digitalisierung der Schulen vorangetrieben werden. Bis dahin müssen pragmatische Lösungen gefunden werden, um auch Familien mit schlechter Internetanbindung (auch auf dem Land) die Teilhabe am digitalen Lernen ermöglichen zu können. Auch sollten dringend finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um einkommensschwache Familien mit Computern, Druckern und der notwendigen IT-Infrastruktur auszustatten. Ein erheblicher Teil von Jugendlichen aus benachteiligten Familien ist es nicht gewohnt, das Internet für das Lernen zu benutzen; ihnen fehlt somit eine wesentliche Kompetenz, die gerade unabdingbar ist. Vielen Eltern geht es ähnlich. Ungünstige Voraussetzungen multiplizieren sich: Wer keine Geräte hat, kann an digitalisiertem Unterricht nicht oder nur eingeschränkt teilnehmen; wer sich selbst nicht strukturieren kann und keine Eltern hat, die beim häuslichen Lernen motivieren und fachlich unterstützen, lernt weniger als sonst.

6. Ein Symptom für die Bildungsungleichheit ist der stark angestiegene Besuch von Nachhilfeeinrichtungen. Viele Kinder sind jetzt gegen hohe Teilnahmegebühren bei den Niederlassungen von Schülerhilfe und Studienkreis oder den vielen anderen Anbietern. Die meisten dieser Nachhilfeeinrichtungen machen gute Arbeit und haben längst gut funktionierende digitale Lernumgebungen geschaffen. Es sollten entweder Formen der Kooperation erprobt werden, um die Arbeit dieser Einrichtungen mit denen der Schulen zu verzahnen, sodass nicht wie bisher die Kinder aus finanzstarken Familien davon profitieren, sondern auch die ärmeren und benachteiligten.

7. Wenn darüber diskutiert wird, welche Schulen zu den ersten gehören, die nach und nach wieder öffnen, dann sollte der Fokus unbedingt auf der Verringerung der angesprochenen sozialen Schieflagen und Bildungsbenachteiligungen liegen. Deswegen sollten im Prinzip die Grundschulen in sozial benachteiligten Quartieren als erste öffnen, im Sekundarschulbereich die Mittel-, Real- und Gesamtschulen eher als die Gymnasien. Wenn ferner, um Klassengrößen zu reduzieren, über Schichtsysteme oder Unterricht für einen Teil der Schüler nachgedacht wird, dann sollten auch hier die benachteiligten oder leistungsschwächeren Kinder und Jugendlichen Vorrang haben vor anderen. Statt nach Schulformen könnte auch nach Kriterien des Kinderschutzes, zum Beispiel beengten Wohnverhältnissen (viele Personen in der Wohnung) oder an der elterlichen Erwerbssituation (Beschäftigung am normalen Arbeitsplatz) orientieren. Dabei wäre eine Zusammenarbeit zwischen Schulamt, Sozialarbeit, Jugendamt, schulpsychologischem Dienst, Kinder- und Jugend(freizeit)- oder Familienzentren und Kinderärzten sinnvoll. Hier muss dringend eine Diskussion geführt werden, wie verhindert werden kann, dass der grundlegend sinnvolle Datenschutz Maßnahmen zum Wohl der Zielgruppe der benachteiligten Kinder immer wieder blockiert.

8. Nicht nur die Wirtschaft braucht ein Förderprogramm, um durch die Krise zu kommen. Auch die Familien benötigen ein solches Programm. Eines mit finanziellen Hilfen für die armen Haushalte und eines mit sozialen Hilfen für alle, die jetzt überfordert sind. Viele Eltern und Kinder brauchen Hilfe, um den Alltag zu organisieren. Dazu gehören Informationen nicht nur über die gefährliche Ausbreitung des Virus und seine Folgen, sondern auch zur Bewältigung der enormen Herausforderungen im plötzlich völlig veränderten Familienleben. Angebote, die sie bei der Suche nach Lernhilfen und Inhalten im Netz unterstützen, bei der Organisation des Tagesablaufs helfen oder aber Hinweise geben, wie Bewegung und Entspannung trotz der Einschränkungen und der gleichzeitigen Koordination verschiedener Aufgaben ermöglicht werden können. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass viele Eltern – und zum Teil auch Schülerinnen und Schüler – nicht oder nur unzureichend deutsch sprechen. Die Informationen müssen deshalb ganz selbstverständlich auch in anderen Sprachen bereitgestellt werden.

 

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