Langzeitstudie: Einstellungen von Lehrern, Eltern und Kindern zu Inklusion
Welche Einstellungen haben Lehrerinnen und Lehrer zur Inklusion? Lehrer aus Niedersachsen und Sachsen-Anhalt können ab sofort an einer Studie teilnehmen. Inklusion, die Teilhabe von allen Menschen am Bildungssystem, bedeutet eine Umbruchphase in der Schule. Bildungschancen sind ein Schlüsselthema für die Gesellschaft. Deshalb haben die Professoren Katrin Hauenschild und Werner Greve nun die Förderzusage der VolkswagenStiftung erhalten: Die Arbeitsgruppe der Universität Hildesheim untersucht an Schulen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, mit welchen Einstellungen und Überzeugungen Lehrerinnen und Lehrer unterrichten und wie sie sich verändern. Und: Wie erleben Kinder und Eltern die Reform?
Welche Rolle Lehrkräfte bei der Umsetzung von Inklusion im Schulalltag spielen, untersucht eine Arbeitsgruppe der Universität Hildesheim in einer Längsschnittstudie an Grundschulen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Welche Einstellungen haben Lehrerinnen und Lehrer zur Inklusion, abhängig von ihren Vorerfahrungen und konkreten Berufserfahrungen? Unterrichten sie derzeit Kinder mit unterschiedlichem Förderbedarf in ihrer Klasse? Lehrer können ab sofort online teilnehmen.
Die VolkswagenStiftung fördert das vierjährige Projekt im Rahmen des Programms »Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft« mit insgesamt mehr als 800.000 Euro. »Wir dachten, wenn das kein Schlüsselthema ist, was dann? Wir sind durch das gesamte Begutachtungsverfahren gegangen. Das war ein harter Wettbewerb«, sagt Werner Greve. »Bei der mündlichen Vorstellung waren wir ein ganz kleines bisschen mega-aufgeregt«. Der Professor für Psychologie leitet gemeinsam mit Professorin Katrin Hauenschild die vierjährige Studie »Einstellungen zu Inklusion. »Wir haben die Zusage erhalten – mit einer Auflage: Wir wurden eingeladen, das Projekt zu erweitern und in der Längsschnittstudie auch Eltern und Kinder zu befragen«, freut sich Katrin Hauenschild.
Die Hildesheimer Arbeitsgruppe startet das Projekt in einer Umbruchphase: Seit 2013 gilt in Niedersachsen ein Rechtsanspruch: Eltern können frei wählen, ob ihr Kind eine Förderschule oder eine Regelschule besuchen soll. »Das Elternwahlrecht ist ausschlaggebend, die Schule und die Lehrkräfte haben keinen Einspruch. Wenn Eltern sagen, mein Kind soll diese Regelschule besuchen, kann die Schule nicht sagen: Nein, das wollen wir nicht«, sagt Werner Greve.
»Wir erwischen jetzt den Zeitpunkt und befragen auch Lehrerinnen und Lehrer, die noch keine Erfahrungen mit Inklusion haben und die sich auch nicht vorgestellt haben, einmal in ihrer Berufslaufbahn sonderpädagogisch mit Kindern mit Förderbedarf und Behinderungen zu arbeiten. Wir begleiten sie in den kommenden vier Jahren und untersuchen, welche Erfahrungen die Lehrkräfte machen und wie und ob sich ihre Einstellungen überhaupt verändern«, so Katrin Hauenschild. So könne man zum Beispiel erfassen, ob sich eine anfängliche Skepsis verstärkt oder ob sie sich zum Positiven wendet.
In einer Pilotstudie haben Hauenschild und Greve schon vor zwei Jahren 120 Lehrerinnen und Lehrer aus Niedersachsen nach ihrer Haltung gegenüber der Reform befragt. Die Einstellung der befragten Grundschullehrkräfte war umso positiver, je mehr Erfahrungen und Kompetenzen sie selbst gesammelt haben. Eher skeptisch eingestellt sind jene, die zum Ziel haben, dass »alle das gleiche lernen sollen«, fasst Werner Greve zusammen. »Inklusion in der Schule« meint mehr als nur den Zugang von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen zu Bildungsangeboten. Zur Teilhabe gehöre zum Beispiel auch die Überwindung sprachlicher Barrieren, etwa wenn ein Kind die deutsche Sprache als zweite Sprache erlernt. Die Idee von Inklusion sei, so Greve, »dass sich durch Kontakt Toleranz und Akzeptanz entwickelt«.
»Wir wollen die Einstellungen nicht beurteilen, sondern dokumentieren, welche Überzeugungen aber auch Sorgen und Befürchtungen Lehrer haben. Was Wissenschaft tun kann, ist, ein differenziertes Bild zu erfassen. Ich vermute, wir werden ein vielfältiges, buntes Bild zeichnen und auch in der Lehrerausbildung darauf reagieren«, sagt Greve. In der Inklusionsstudie befragen die Forscher auch Lehramtsstudierende, die erste Praxiserfahrungen gesammelt haben und bald in den Beruf einsteigen.
Um erfassen zu können, wie sich Einstellungen verändern, arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hildesheim mit unterschiedlichen Methoden, kombinieren quantitative und qualitative Verfahren. »Wir arbeiten mit standardisierten Fragebögen in einer großen Stichprobe über vier Jahre«, so Greve. Aussagen und Meinungen werden in der Hildesheimer Studie getrennt erfragt (Beispiel aus dem Fragebogen: 1. »Schülerinnen und Schüler lernen durch inklusiven Unterricht, empathisch miteinander umzugehen«.; 2. »Es ist mir wichtig, dass Schülerinnen und Schüler empathisch miteinander umgehen«.). »Parallel erhoffen wir uns in ausführlicheren offenen Interviews Antworten auf Fragen, die wir im Fragebogen nicht gestellt haben«, so Hauenschild.
Mit der Studie können die Forscher auch erfassen, ob ein Zusammenhang zwischen der Einstellung und der pädagogischen Orientierung besteht. Eine Lehrerin, die mit der Klasse offen arbeitet und die Vielfalt in der Klasse einbezieht, komme vielleicht leichter mit der Heterogenität im Klassenzimmer zurecht. »Wir erfassen auch, ob eine Bereitschaft zur Unterrichtsentwicklung vorhanden ist oder ob es Auswirkungen der Lernumgebung auf den Unterricht gibt«, so Hauenschild. »Außerdem erfahren wir mehr über die Dynamik von Einstellungen«, sagt Werner Greve über Erkenntnisse, die für die Grundlagenforschung relevant sind.
»Auch Kinder sollen zu Wort kommen. Man kann Erstklässler nicht nach ‚Inklusion‘ fragen«, sagt Katrin Hauenschild. Stattdessen fragen sie Kinder ab der ersten Klasse zum Beispiel, wer ihr Freund ist und wer nicht, wen sie warum nett finden, mit wem sie gerne spielen, ob und wie sie Verschiedenheit wahrnehmen.
Zur Arbeitsgruppe gehören neben Greve und Hauenschild vier Doktorandinnen: Die Grundschuldidaktikerin Josephine Götz befasst sich in ihrer Dissertation mit qualitativen Lehrerbefragungen. Lena Ohnesorge hat im Lehramtsstudium in Hildesheim Erfahrungen im Umgang mit Kindern gesammelt, etwa im Projekt »Lernku(h)lt«, in dem sie über ein Jahr Kinder unterschiedlicher Herkunftssprachen im Team gefördert hat. In der Inklusions-Studie befragt sie die Kinder. Welche Sorgen und Ängste, Hoffnungen und Stärken haben Eltern, deren Kinder mit einer Behinderung oder dauerhaften Beeinträchtigung aufwachsen? Die Psychologin Sabine Hellmers untersucht in ihrer Dissertation Bewältigungsstrategien und Lebenslagen von Eltern. In der Inklusions-Studie ist sie für die Eltern-Befragungen zuständig. Lydia Schmieder hat sich ebenfalls mit den Lebenslagen von Eltern befasst; im Projekt übernimmt sie den Fragebogen für die Lehrerinnen und Lehrer.
Jetzt online teilnehmen / Studie startet
Wer in Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt an einer Grundschule unterrichtet, wer im Referendariat oder am Ende des Lehramtsstudiums steht, kann an der Studie der Universität Hildesheim mitwirken. »Wir möchten in dieser Untersuchung Ihre Erwartungen, Ihre Bewertungen, Ihre Überzeugungen, auch Ihre Befürchtungen erfahren. Wir alle machen Erfahrungen, die uns beeinflussen, und möglicherweise werden sich manche Ihrer Einstellungen im Laufe der Zeit wandeln«, heißt es in einem Schreiben der Forschergruppe an Lehrerinnen und Lehrer.
Die erste Erhebungsphase startet in diesen Tagen, Grundschulen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wurden angeschrieben und Lehrerinnen und Lehrer gebeten, den Online-Fragebogen auszufüllen. Erste Ergebnisse werden im Frühjahr 2016 erwartet. Die zweite Fragebogen-Erhebung startet vor den großen Ferien im Sommer 2016. Die Durchführung der offenen Interviews beginnt im Frühjahr 2016.
Die Teilnahme ist ab sofort möglich. »Bitte nehmen Sie sich etwa 60 Minuten Zeit. Das ist nicht wenig – es ist uns bewusst, dass wir viel Zeit von den Lehrerinnen und Lehrern erbitten. Nur wenn wir genauer zu einzelnen Aspekten fragen, wird es möglich sein, die Chancen und Probleme differenziert einzuschätzen«, sagt Professorin Katrin Hauenschild. Wer neben dem Fragebogen auch an Interviews teilnehmen möchte, kann eine E-Mail-Adresse angeben.
Alle Daten werden absolut anonym behandelt. Eine Zuordnung der Antworten zur Person ist nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. Die Datensätze werden nicht online oder in »Clouds« gespeichert. Die Veröffentlichung der Ergebnisse der Studie wird in anonymisierter Form erfolgen. »Daten einzelner Personen können nicht zugeordnet werden. Wir nehmen keine Auswertung von Einzelfällen vor, sondern untersuchen, welche Aspekte auf Basis der Gesamtstichprobe welchen Einfluss haben«, so Werner Greve. Um die Studie durchzuführen, hat die Hildesheimer Arbeitsgruppe die Genehmigungen der Ethikkommission des Fachbereichs, des Kultusministeriums und der Landesschulbehörde erhalten.
Wer Rückfragen zur Studie hat, kann sich auch telefonisch an Sabine Hellmers (05121.883-10938) und Lydia Schmieder (05121.883-10928) wenden.