Aktuelles aus der Migrationsforschung

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Refugees (Symbol)

Die sogenannte »Flüchtlingskrise ab 2015« gehört noch immer zu den dominierenden Themen im öffentlichen Diskurs in Deutschland. Die aktuelle Ausgabe des Informationsdienst Soziale Indikatoren, ISI 61, der von GESIS herausgegeben wird, beschäftigt sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit dem Themenkomplex Zuwanderung und liefert in sechs Beiträgen aktuelle Befunde zur wachsenden syrischen Bevölkerungsgruppe, zu unterschiedlichen Bildungschancen, zu Bedrohungsgefühlen in Europa u.v.m.

Um den steigenden Anteil syrischer Migranten*innen in Deutschland und dessen Auswirkungen geht es in dem Beitrag von Susanne Worbs, Nina Rother & Axel Kreienbrink (Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl, BAMF). Stellten syrische Migranten*innen bis 2010 noch eine quantitativ kleine Gruppe (0,4% der gesamten ausländischen Bevölkerung) dar, die sich in erster Linie durch Bildungs- und Fluchtmigration sowie Familiennachzug aufgebaut hatte, so führte der Kriegsausbruch in Syrien zu einem drastischen Anstieg geflüchteter Menschen: 2017 stellten syrische Migranten*innen in Deutschland mit rund 700.000 Menschen die drittgrößte Ausländergruppe dar. Allerdings zeigt sich, dass Syrer*innen deutlich weniger als alle Ausländer unbefristete Aufenthaltstitel erhalten. Zwar hat sich zwischen 2010 und 2017 die absolute Zahl syrischer Staatsangehöriger mit unbefristeten Aufenthaltstiteln verdoppelt, jedoch ist ihr relativer Anteil von 19,5% auf 1,8% gefallen. Aufgrund des hohen Männeranteils und des jungen Durchschnittsalters ist diese Gruppe von großer Relevanz für das Ausbildungssystem und den Arbeitsmarkt in Deutschland. Darüber hinaus führt die Zuwanderung syrischer Flüchtlinge auch zu Veränderungen in der ethnisch-religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung in der Bundesrepublik. So werden der bislang vorwiegend türkische Islam »arabischer« und christliche Gemeinden vielfältiger. Hinzu kommen kleinere Minderheitsgruppen, die vorhandene Diasporagemeinden vergrößern.

Eine historisch beschreibende Untersuchung (2000 bis 2015) zur Ungleichheit der Lesekompetenz von Schülern*innen mit und ohne Migrationshintergrund führen Reinhard Schunck und Janna Teltemann (GESIS und Universität Hildesheim) anhand von PISA Daten durch. Die Ergebnisse zeigen, dass Schüler*innen, die selbst zugewandert sind, in ihren Lesefähigkeiten durchschnittlich zwei Schuljahre hinter gleichaltrigen Schülern ohne Migrationshintergrund zurückliegen. Schüler*innen der sogenannten »zweiten Generation« liegen bei der Lesekompetenz durchschnittlich ein Schuljahr hinter dem Leistungsniveau von Kindern ohne Migrationshintergrund zurück.

Die Bedrohungsgefühle und die Befürwortung selektiver Einwanderungskriterien in Einwanderungsländern zwischen 2002/3 und 2014-15 analysieren Boris Heinzmann und Nora Huth (beide GESIS). Die Autoren zeigen auf Basis der ersten und siebten Runde des European Social Survey (ESS), dass es auf Länderebene sowohl ausgeprägte Unterschiede hinsichtlich der Art der Bedrohungsgefühle als auch zwischen den Ländern selbst gibt – auch im zeitlichen Verlauf. Durchschnittlich am stärksten ausgeprägt in den betrachteten 19 Ländern ist trotz eines allgemeinen Rückgangs noch immer die Furcht vor steigenden Kriminalitätsraten. Während Alter und Geschlecht für das Gefühl von Bedrohung durch Migration zu keinem der beiden Erhebungszeitpunkte eine Rolle spielen, wirken sich Bildungsgrad und berufliche Stellung deutlich auf diese Wahrnehmung aus: Personen mit einem höheren Bildungsgrad fühlen sich weniger von Migration bedroht, erwerbstätige Personen befürchten weniger negative Konsequenzen als Erwerbslose. Auch das politische Interesse der Befragten spielt eine signifikante Rolle: je höher das politische Interesse, desto weniger ausgeprägt ist die Bedrohungswahrnehmung.
Die Analyse der selektiven Einwanderungskriterien zeigt überdies, dass das Gefühl der Bedrohung durch Kriminalität zwischen 2002/3 und 2014/15 zugunsten einer Zunahme ökonomischer Bedrohungsgefühle abnimmt.

Ob das Begriffsverständnis der Deutschen gegenüber in Deutschland lebendender Ausländer*innen Auswirkungen auf die Einstellungsmessung hat, untersuchen Martina Wasmer und Oshrat Hochman (beide GESIS) auf der Grundlage der ALLBUS-Daten 2016. Auf die offen gestellte Frage, an welche Gruppen sie bei in Deutschland lebenden Ausländern*innen dächten, nennt ein großer Anteil der Befragten lediglich eine Gruppe. Am häufigsten werden sowohl in West- als auch in Ostdeutschland die Türken (70% West bzw. 58% Ost) genannt, mit 19% Nennungen im Westen bzw. 27% im Osten folgen die Syrer. Weitere klassische Gastarbeiternationen wie Griechenland, Spanien, Italien sind ebenfalls vertreten, jedoch zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Ost und West, die wohl auf die unterschiedlichen historischen Erfahrungen bzw. die daraus resultierenden Unterschiede in der regionalen Verteilung der verschiedenen Ausländernationalitäten zurückzuführen sind. Hinsichtlich des Einflusses des Begriffsverständnisses von Ausländern auf die Einstellung zeigen Befragte, die kulturelle oder »rassistische« Attribute nennen, am ehesten negative Einstellungen. Diese nehmen ab, wenn mit Ausländern*innen europäische Einwanderer*innen assoziiert werden. Berücksichtigt man die Anzahl der Gruppennennungen zeigt sich überdies, dass die positive Einstellungen gegenüber Ausländern*innen mit steigender Anzahl zunimmt, was darauf schließen lässt, dass Personen mit einem stärker differenzierten Ausländerbild tendenziell toleranter sind als Personen, die nur an wenige Gruppen denken.

Wann Kontakte zwischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft sich auf die Einstellung auswirken fragen Peter Schmidt, Stefan Weick & Daniel Gloris (Universität Gießen, GESIS und Universität Marburg) in ihren Längsschnittanalysen der vier Wellen des Gesis-Panels (Frühjahr 2016 – Herbst 2017). Die beiden untersuchten Gruppen »Flüchtlinge« und »Muslime« bestätigen für den Untersuchungszeitraum postulierte Hypothesen teilweise: So wirkt die positive Einstellung gegenüber Flüchtlingen sowohl zum ersten als auch zum dritten Zeitpunkt auf spätere positive Kontakte. Die klassische Kontakthypothese bestätigt sich lediglich vom zweiten zum dritten sowie vom dritten zum vierten Zeitpunkt: positive Kontakterfahrungen wirken positiv auf die Einstellung. Umgekehrt nehmen negative Kontakte vom zweiten und dritten Zeitpunkt negativen Einfluss auf die Einstellung. Für die Muslime zeigt sich eine größere Stabilität der negativen und positiven Kontakterfahrungen, was an der wesentlich längeren Kontakterfahrung mit dieser Gruppe liegen dürfte.

Der Band schließt mit einem Interview mit Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun zur deutschen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Nach Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun befindet sich Deutschland seit der »Gastarbeiterzeit« in einer Krise, die bis heute anhält. Die Angst vor Überfremdung sei bereits in den frühen Jahren der Bundesrepublik entstanden und hätte Politiker in der Folge zu einer »Abschottungspolitik« bewogen – aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren. Deutschland sei längst ein Einwanderungsland, in dem heute 23,6% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hätten. Doch statt auf den historischen Erfahrungen aufzubauen, versuche die Migrationspolitik weiterhin mit allen Mitteln, die Zahlen einzudämmen. Von einer positiven Sicht auf Migration, die diese auch als Gewinn und Chance für das Land begreift, wären wir weit entfernt; die »offenen Grenzen« im Herbst 2015 stellten eine absolute Ausnahme in Deutschland dar. Die »Willkommenskultur« hätte ihren Ursprung in der Zivilgesellschaft; zwar habe die Bundesregierung offiziell lange daran festgehalten, realiter erlebe das Land jedoch eine nicht dagewesene Verschärfung des Asylrechts.

   

 

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