Bildungspolitische Phantomschmerzen
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Dr. Dieter Dohmen, Berlin.
Klappern gehört ebenso zum politischen Handwerk wie das Prinzip, nur die Statistiken zu nutzen, die die eigene Meinung bestätigen, oder aber diese so zu interpretieren, dass die Botschaft zur eigenen Politik passt. Ein paar Kostproben: »Deutschlands Schulsystem ist gar nicht so ungerecht, wie manche immer behaupten!«, »Deutschlands Jugend ist im Akademisierungswahn!«, »Wir haben zu viele Abiturienten, zu viele Studierende und zu wenige Auszubildende!«, »In Deutschland haben erstmals mehr junge Leute ein Studium aufgenommen als eine neue Ausbildung!«.
Nun, zugegeben, manches Zitat ist möglicherweise genau so noch nicht formuliert worden, aber sie reflektieren den Zeitgeist. Nun sei auch nicht bestritten, dass manche Entwicklung nicht erfreulich ist, wie etwa die sinkende Zahl der neuen Ausbildungsverträge. Das zeigt die Statistik eindeutig. Wenn in diesen Tagen das neue Ausbildungsjahr beginnt, dann werden wohl wieder weniger neue Ausbildungsverträge unterschrieben worden sein als noch im Vorjahr. Doch wie viele hatten wir denn im Vorjahr? Folgt man der integrierten Ausbildungsberichterstattung, dann waren es nicht mal 500.000. Ja, richtig, 500.000 Ausbildungsverträge sind weniger als 506.000 Studienanfänger – quod erat demonstrandum! Nur, diese Statistik zählt ausschließlich diejenigen Auszubildenden, die eine Berufsschule besuchen. D.h. diejenigen, die parallel zur Ausbildung studierenden, also die dual Studierenden, werden hier nicht mitgezählt, weil sie, nun ja, eben keine Berufs-, sondern eine Hochschule besuchen. Sie schließen aber ihre (duale) Ausbildung neben dem Hochschulabschluss auch mit einer IHK-Ausbildungsprüfung ab. Zählt man sie mit, wie es eigentlich richtig wäre, dann steigt die Zahl der neuen Ausbildungsverträge für das Jahr 2013 auf über 530.000! Das ist natürlich schade, dass das jetzt leider so gar nicht mehr zur gewünschten Botschaft passt. Schließlich ist 530.000 nach Adam Riese nun mal mehr als 506.000.
Nun, dann lassen Sie mich doch gleich noch mit einem anderen Faktotum aufräumen. Die Studienanfängerquote liegt ja nach offiziellen Verlautbarungen bei etwa 55% und ist damit weit höher als das von der Bundesregierung angestrebte 40%-Ziel. Dies ist zweifellos ein Erfolg, den sich Politik und Hochschulen auf die Fahne schreiben können. Aber ganz so einfach ist dann auch hier nicht.
Nun denken Sie vielleicht, jetzt kommt der unvermeidliche Hinweis auf die doppelten Abiturjahrgänge und die Abschaffung von Wehr- und Zivildienst, wodurch die Quote vorübergehend aufgebläht wird. Das ist sicher richtig – aber nur ein Aspekt dabei. Der andere ist viel interessanter: In Deutschland haben nicht nur so viele junge Menschen ein Studium aufgenommen, wie noch nie in der Geschichte. Es haben sich auch noch nie so viele junge Menschen aus dem Ausland eingeschrieben, wie letztes Jahr – nämlich über 100.000! Dies ist ein Erfolg für den Hochschulstandort Deutschland. Wenn man aber jetzt diese 101.000, um genau zu sein, von den 506.000 abzieht, dann haben nur 405.000 junge Menschen mit einer in Deutschland erworbenen Studienberechtigung ein Studium aufgenommen. Und von denen haben rund 20.000 gar keine »formale Hochschulzugangsberechtigung«, sondern kommen über die Anerkennung beruflicher Qualifikationen usw. D.h. nimmt man nur die mit einem »deutschen Abitur«, dann landet man bei einer Studienanfängerquote von gut 40%. Damit wäre das 40%-Ziel zwar immer noch erreicht, aber 55% hört sich nun mal besser an als 40% - aber wo doch die OECD so viel Druck auf die Erhöhung der Studienanfängerquote in Deutschland gemacht hat, passt eine so hohe Zahl ganz gut ins Konzept.
Vielleicht fragen sie sich jetzt, wo denn die 100.000 jungen Menschen mit einem deutschen Abitur geblieben sind, die ja dann wohl doch kein Studium aufgenommen haben. Was haben die wohl gemacht? Ja, richtig, sie haben eine Berufsausbildung im dualen System aufgenommen. Satte 130.000 Abiturienten haben 2012 eine Berufsausbildung begonnen. Das sind 40.000 mehr als noch wenige Jahre vorher. Jeder vierte Abiturient in Deutschland beginnt eine duale Berufsausbildung. Diese Quote ist seit Jahren ziemlich konstant. Es gibt also auch keine Flucht der Abiturienten aus der Berufsausbildung – wie gerne behauptet wird. Warum sinkt dann aber die Zahl der Auszubildenden von Jahr zu Jahr?
Erstens, gibt es zu viele Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss oder mit schlechten Leistungen verlassen. Fast jeder fünfte 15-Jährige ist ein funktionaler Analphabet, d.h. er – seltener sie – kann nicht richtig Lesen, Schreiben, Rechnen, was meist nichts mit ADHS oder Lese-Rechtschreib-Schwäche zu tun hat. Diese Jugendlichen haben es – verständlicherweise – schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden. Allerdings haben sich in den letzten Jahren die Chancen von Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz zu finden verbessert. Ja, Sie haben richtig gelesen, allen Behauptungen zum Trotz finden Jugendliche ohne oder mit Hauptschulabschluss leichter einen Ausbildungsplatz als noch vor wenigen Jahren.
Zweitens, wird gerne übersehen, dass es noch einen weiteren Zweig der Berufsbildung gibt, das sog. Schulberufssystem, in dem Kita-Erzieherinnen, Alten-, Kranken- und Heilerziehungspflegerinnen etc. ausgebildet werden. Hier gibt es einen steigenden Bedarf, weil mehr Kinder in Krippe und Kindergarten gehen, es mehr ältere Menschen gibt. Der Arbeitgeberverband hat vor kurzem – völlig zurecht – darauf hingewiesen, dass mehr Erzieherinnen gebraucht werden, und es wird ja auch schon hier und da von einem Pflegenotstand berichtet. Die weibliche Form ist hier im Übrigen kein Zufall. Es sind vor allem junge Frauen mit Realschulabschluss, die diese Berufe wählen. Oder aber sie erwerben auf unterschiedlichen Wegen eine Studienberechtigung – auch diese Quote steigt. Über ein Drittel der Studienberechtigten hat gar kein »klassisches« Abitur, sondern erwirbt die Studienberechtigung über eine berufliche Ausbildung oder eine schulische Alternative zum Gymnasium, sei es Fachoberschule oder Fachgymnasium.
Sie tragen auf diesem Wege dazu bei, die Ungerechtigkeiten, die u.a. die frühe Selektierung im Schulsystem schafft, sich letztlich nicht ganz so deutlich niederschlagen. Was Anfang des Jahres in interessierten Kreisen mit großer Freude konnotiert wurde. Es ist schon wirklich eine Frechheit, dass die junge Generation gegen solche Ungerechtigkeiten zur Wehr setz und alles daran setzt, um sich bestmöglich für eine unsichere Zukunft zu wappnen – und hierzu gehört für viele junge Menschen halt das Abitur. Ach ja, die große Mehrheit der »Umwegs-Abiturienten« beginnen übrigens danach eine duale oder schulische Ausbildung und kein Studium! Allerdings beginnt rund ein Fünftel der Ausbildungsabsolventen später doch noch ein Studium, was darauf schließen lässt, dass es mit der erhofften Karriere wohl doch nicht so schnell vorangeht ....
Zum Autor: Dr. Dieter Dohmen ist Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in Berlin.
In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.
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