Deutsche schätzen soziale Realitäten häufig falsch ein

(Geschätzte Lesezeit: 3 - 6 Minuten)
Ipsos

Studie zur Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit 

Dass die eigene Wahrnehmung oftmals nicht mit der Realität übereinstimmt, belegt einmal mehr die aktuelle Ipsos-Studie »Perils of Perception«. In 37 Ländern schätzten knapp 30.000 Personen aktuelle Zahlen zur Bevölkerungsstruktur und gesellschaftsrelevanten Themen. Auch hierzulande werden viele soziale Realitäten von den Bürgern vollkommen falsch eingeschätzt. Verglichen mit anderen Ländern irren sich die Deutschen sogar überdurchschnittlich oft.

Migrantenanteil in Deutschland zu hoch geschätzt
Der Anteil von Einwanderern an der Gesamtbevölkerung wird in Deutschland deutlich zu hoch eingeschätzt. Während der tatsächliche Wert 15 Prozent beträgt, liegt die durchschnittliche Schätzung der Befragten doppelt so hoch (30%). In einigen anderen Ländern ist die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und realen Zahlen in Sachen Migration sogar noch extremer, insbesondere in Lateinamerika. Ein Extrembeispiel: Obwohl Kolumbien laut offizieller Statistik eine Einwandererquote von lediglich 0,3 Prozent hat, wird dennoch vermutet, dass mehr als jeder dritte Einwohner Kolumbiens (34%) Migrant ist. Ähnlich gravierende Fehlwahrnehmungen zeigen sich in Peru, Brasilien, Argentinien und Chile.

Anteil an Muslimen stark überschätzt
Während sich also die Schätzungsfehler der Deutschen bei nicht weiter spezifizierten Einwanderern noch verhältnismäßig in Grenzen halten, sieht es bei Menschen muslimischen Glaubens schon anders aus. In der Wahrnehmung der Befragten ist jeder fünfte Bundesbürger (21%) Muslim. Der tatsächliche Anteil an Muslimen an der Gesamtbevölkerung entspricht mit lediglich 4 Prozent nicht einmal einem Fünftel des Schätzwertes. Nur in 7 von insgesamt 37 untersuchten Ländern irren sich die Menschen in dieser Frage noch stärker.

Deutsche glauben jeder Fünfte ist arbeitslos
Selbst ein in der Öffentlichkeit verhältnismäßig breit diskutiertes Thema wie die Arbeitslosenquote wird hierzulande fünf Mal zu hoch eingeschätzt. Schenkt man den Schätzungen der Befragten Glauben, so würde sich aktuell jeder fünfte Deutsche im erwerbsfähigen Alter (20%) auf der Suche nach Arbeit befinden. In Wahrheit ist derzeit nicht einmal jeder zwanzigste Bundesbürger (4%) arbeitslos. Mit einer Diskrepanz von 16 Prozentpunkten schneiden wir im internationalen Vergleich sogar recht gut ab. In Mexiko (47%), Brasilien (47%) und Peru (46%) ist die Differenz deutlich gravierender.

Einschätzung der Wirtschaftslage nur knapp daneben
Deutlich optimistischer wird die die hiesige Wirtschaftskraft gesehen. Deutschland wird im Durchschnitt auf Position 9 unter den 200 größten Volkswirtschaften der Welt (nach BIP) eingestuft. Tatsächlich hat die Bundesrepublik aber sogar das viert größte Bruttoinlandsprodukt der Welt. Mit einer Differenz von nur 5 Positionen ist die Einschätzung der Deutschen allerdings vergleichsweise akkurat. Weltweit verschätzen sich die Befragten um durchschnittlich 42 Positionen, in Argentinien sogar um sage und schreibe 129 Positionen.

Anteil erneuerbarer Energien wird unterschätzt
Ähnlich realistisch schätzt die Bevölkerung den Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch Deutschlands ein. Im Durchschnitt wird vermutet, dass hierzulande knapp ein Drittel des Energiebedarfs (29%) aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. In Wirklichkeit liegt der Prozentsatz mit 36 Prozent sogar noch etwas höher. Während die Deutschen die Dinge also erneut negativer sehen als sie tatsächlich sind, wird in den meisten anderen Ländern der Anteil erneuerbarer Energien tendenziell eher überschätzt.

Sexuelle Potenz junger Menschen wird drastisch überschätzt
Bei der Einschätzung des Sexualverhaltens junger Erwachsener, liegen die Befragten in ausnahmslos allen untersuchten Ländern komplett daneben. Hierzulande wird vermutet, dass Frauen und Männer im Alter zwischen 18 und 29 Jahren durchschnittlich 16 Mal in vier Wochen Sex haben. Die tatsächliche Häufigkeit liegt mit fünf Mal in vier Wochen weit unter dem Schätzwert. Global gesehen ist die Kluft zwischen subjektiver Wahrnehmung und realen Zahlen sogar noch etwas größer.

Selbst Frauen unterschätzen das Ausmaß sexueller Belästigung
In Deutschland wird das Ausmaß sexueller Belästigung von Frauen massiv unterschätzt. Sechs von zehn deutschen Frauen (60%) geben an, seit ihrem 15. Lebensjahr bereits irgendeine Form von sexueller Belästigung erfahren zu haben. Die Einschätzungen der Studienteilnehmer liegen deutlich unter diesem Wert (37%). Selbst die weiblichen Befragten (40%) unterschätzten das tatsächliche Ausmaß.

Deutsche im unteren Drittel des »Irrtumsindex«
Berücksichtigt man alle Fragestellungen der Studie, so verschätzten sich die Deutschen deutlich häufiger als die Bürger vieler anderer Nationen. Unter den insgesamt 37 abgefragten Ländern belegt Deutschland lediglich den 24. Platz, wenn es um die beste Schätzung geht. Der Wirklichkeit am nächsten kamen die Befragten aus Hongkong, Neuseeland und Schweden, der unrühmliche Preis für die Bevölkerung mit der am wenigsten zutreffenden Wahrnehmung geht an Thailand, dicht gefolgt von Mexiko und der Türkei.

Dr. Robert Grimm, Director Ipsos Public Affairs, deutet die Studiendaten nicht zuletzt als Folge zunehmend polarisierender öffentlicher Debatten: »Gerade bei den politisch brisanten Themen wie Migration und Muslime in Deutschland liegen Wahrnehmung und Realität weit auseinander. Diese Themen werden häufig in den Medien und in der Politik diskutiert. Die Diskurse sind dabei überwiegend negativ konstruiert, es wird polarisierend und emotional über Kontrolle, Kriminalität und Betrug debattiert. In der menschlichen Wahrnehmung verstärken sich damit soziale Phänomene zu überdimensionalen Problemen mit dringendem politischen Handlungsbedarf.

Dass wir die Zahl sexueller Belästigungen so stark unterschätzen ist ein Indikator der weiterhin mangelnden Aufmerksamkeit für dieses Problem in unserer Gesellschaft. Einerseits assoziieren wir sexuelle Belästigung überwiegend mit Frauen. Frauen haben es noch immer schwer, gegen verbliebene gesellschaftliche Strukturen anzuschwimmen und frauenspezifische Themen werden oftmals nur geschwächt oder bagatellisiert in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Andererseits ist die Unterschätzung sexueller Belästigungen bestimmt auch ein Ausdruck über die Unsicherheit darüber, was diese eigentlich konstituiert (besonders auf Seiten der Männer).«

Hintergrund
Die Ergebnisse stammen aus der Ipsos MORI »Perils of Perception 2018«-Studie, die über das Ipsos Online Panel System durchgeführt wurde. Die Befragung wurde vom 28. September bis zum 16. Oktober 2018 unter 28.115 Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren in insgesamt 37 Ländern durchgeführt: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, China, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Indien, Italien, Japan, Kanada, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Montenegro, Neuseeland, Niederlande, Peru, Polen, Rumänien, Russland, Saudi-Arabien, Schweden, Schweiz, Serbien, Singapur, Spanien, Südafrika, Südkorea, Thailand, Türkei, Ungarn und USA. In Montenegro und Serbien wurden zusätzlich zur Online-Befragung auch Face-to-Face-Interviews durchgeführt.

Es wurde eine Gewichtung der Daten vorgenommen, um die demografischen Merkmale auszugleichen und damit sicherzustellen, dass die Stichprobe die aktuellen offiziellen Strukturdaten der erwachsenen Bevölkerung eines jeden Landes widerspiegelt. In 21 der 37 untersuchten Ländern ist die Internetdichte groß genug, um die Stichproben als repräsentativ für die nationale Bevölkerung anzusehen: Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Polen, Schweden, Schweiz, Singapur, Spanien, Südkorea, Ungarn und USA.

Brasilien, Chile, China, Indien, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Peru, Rumänien, Russland, Saudi Arabien, Serbien, Südafrika, Thailand und die Türkei haben eine niedrigere Internetdichte; diese Stichproben sollten nicht als bevölkerungsrepräsentativ angesehen werden. Sie repräsentieren stattdessen den wohlhabenderen Teil der Bevölkerung, die aufstrebende Mittelklasse. Diese stellt allerdings eine wesentliche soziale Gruppe dar, wenn es darum geht, diese Länder verstehen zu lernen.

Die 'tatsächlichen' Daten wurden aus einer Vielzahl von verifizierten Quellen für jede Frage und jedes Land entnommen - eine vollständige Liste der Quellen bzw. Links zu den amtlichen Statistiken kann bei Bedarf angefordert werden.

  

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