Mehrheit der Deutschen zweifelt am Sozialstaat

Das Progressive Zentrum

Sozialstaat in der Kritik: Reformdruck wächst

Eine aktuelle Umfrage des Exzellenzclusters »The Politics of Inequality« an der Universität Konstanz zeigt: Über 70 Prozent der Deutschen haben nur noch geringes oder sehr geringes Vertrauen in den Sozialstaat.

Dieses Misstrauen bezieht sich sowohl auf die langfristige Finanzierbarkeit als auch auf die Fairness der Verteilung sozialpolitischer Leistungen. Besonders ausgeprägt ist die Skepsis bei Menschen mit niedrigem Einkommen. Auch Befragte, die bei der Bundestagswahl 2025 die AfD wählen wollen, schätzen sowohl die ökonomische Ungleichheit als auch ihre politische Selbstwirksamkeit als äußerst gering ein.

Vertrauenskrise trifft vor allem Einkommensschwache

Die Umfrageergebnisse verdeutlichen, dass insbesondere Menschen mit geringem Einkommen dem Sozialstaat misstrauen. Sie nehmen die Behandlung im Rentensystem und bei Sozialleistungen als besonders unfair wahr, was nach Ansicht der Forschenden auf die Sorge vor Altersarmut zurückzuführen sein könnte.

Im Gegensatz dazu empfinden Menschen mit hohem Einkommen vor allem die Bereiche Bildung und sozialer Aufstieg als ungerecht. In Ostdeutschland ist das Gefühl der Benachteiligung bei Löhnen, Renten und politischer Repräsentation stärker als im Westen.

Rentensystem im Fokus der Kritik

Obwohl das Rentensystem eigentlich nach dem Äquivalenzprinzip funktioniert – also Einzahlungen und Auszahlungen in einem Verhältnis stehen sollen –, herrscht laut Professor Marius R. Busemeyer, Sprecher des Exzellenzclusters, ein hohes Maß an gefühlter Ungerechtigkeit.

Er betonte, die verbreitete Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der Rentenpolitik solle die neue Bundesregierung zu langfristigen Reformen motivieren, um das System nachhaltig zu sichern.

Politische Selbstwirksamkeit und Demokratie unter Druck

Die Untersuchung zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen wahrgenommener Ungleichheit und politischer Teilhabe. Besonders Menschen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung fühlen sich politisch machtlos und glauben kaum, durch eigenes Engagement etwas bewirken zu können.

Wer die ökonomische Ungleichheit als hoch einschätzt, traut sich selbst weniger politischen Einfluss zu. Diese Entwicklung schwächt das Fundament der Demokratie, wie die Forschenden betonen.

Politik gilt als abgekoppelt von den Bürger*innen

Die Skepsis gegenüber dem politischen System ist weit verbreitet: 85 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass Politiker*innen sich nicht um die Anliegen »einfacher Leute« kümmern, und 82 Prozent meinen, der Kontakt zwischen Politik und Bevölkerung sei zu gering. Diese Entfremdung verstärkt das Misstrauen in die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats und die Demokratie insgesamt.

Forderungen nach Reformen und mehr Beteiligung

Die Studienautor*innen empfehlen, die politische Kommunikation zu verbessern und Bürger*innen stärker in Entscheidungsprozesse einzubinden.

Besonders bei Rente und Gesundheitsversorgung sehen sie dringenden Reformbedarf. Nur so könne das Vertrauen in den Sozialstaat und die Demokratie wieder gestärkt werden.

Hintergrund
Die Veröffentlichung des Policy Papers »Auf dem Abstellgleis? Zum Zusammenhang zwischen Ungleichheitswahrnehmungen und politischer Beteiligung« sowie des Working Papers »Sinkendes Vertrauen, zunehmende Ungleichheit? Die Performanz des deutschen Sozialstaats im Spiegel der öffentlichen Meinung« erfolgt in Zusammenarbeit zwischen dem Exzellenzcluster »The Politics of Inequality« an der Universität Konstanz und dem Berliner Think-Tank Das Progressive Zentrum.
Die Daten wurden im Rahmen einer Online-Befragung der über-18-jährigen Wohnbevölkerung in Deutschland zwischen dem 11. November und 5. Dezember 2024 erhoben. Insgesamt nahmen 6.152 Befragte teil. 


  VERWEISE  
  •  ...

Ähnliche Themen in dieser Kategorie

22.08.2024

DIW-Studie: Einkommen steigt, aber Gesundheit bleibt problematisch Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) untersucht die Zufriedenheit der deutschen Bevölkerung in verschiedenen Lebensbereichen über einen Zeitraum von 20 Jahren. Im Mittelpunkt …

13.12.2023

Im Jahr 2023 sind die Beitragseinnahmen der allgemeinen Rentenversicherung bis September gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um rund 5,4 Prozent gestiegen. Für das Jahresende 2023 wird eine Nachhaltigkeitsrücklage von rund 44,5 Milliarden Euro geschätzt. Dies …

06.09.2023

Der sogenannte Transformationsbericht der Bundesregierung zu menschlichem Wohlbefinden, Fähigkeiten und sozialer Gerechtigkeit steht nun als Unterrichtung zur Verfügung. Zielsetzung und Struktur des Berichts Der vorliegende Transformationsbericht verfolgt zwei Ziele: Zum einen …

24.08.2023

Auch im Jahr 2024 wird der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit großem Abstand der ausgabenstärkste des Bundeshaushalts bleiben. Im Haushaltsentwurf 2024 sieht der Einzelplan 11 Ausgaben in Höhe von 171,67 Milliarden Euro vor, das ist mehr als ein Drittel …

.
Oft gelesen...