Das Prinzip der minimalen Führung
Ein Beitrag aus unserer »Standpunkte«-Reihe von Klaus Kissel, Urbar.
Die Arbeitsstrukturen und -beziehungen in den Unternehmen haben sich verändert; außerdem die (Persönlichkeits-)Profile der Mitarbeiter. Deshalb müssen die Führungskräfte ein neues Selbstverständnis entwickeln und ein verändertes Führungsverhalten zeigen – auch damit sie nicht an ihre Belastungsgrenzen stoßen.
Führungskräfte müssen sicherstellen, dass der ihnen anvertraute Bereich seinen Beitrag zum Erreichen der Unternehmensziele leistet. Das war und ist die Kernaufgabe von Führung. Radikal gewandelt haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten aber die Rahmenbedingungen, unter denen Führungskräfte diese Aufgabe wahrnehmen – aufgrund der Veränderungen in den Unternehmen selbst und der Veränderungen, die sich in deren Umfeld vollzogen.
Und diese Rahmenbedingungen werden sich künftig noch schneller ändern. Deshalb gelangten in den zurückliegenden Jahren viele Unternehmen zur Erkenntnis:
- Unsere Führungskräfte brauchen ein dynamischeres Führungs(selbst-)verständnis. Und:
- Sie müssen künftig, wie ihre Mitarbeiter, regelmäßig reflektieren, ob ihr Verhalten (noch) zielführend ist.
Denn nur dann können sie ihre Wirksamkeit in der Organisation mit System erhöhen.
Das Streben nach einem kontinuierlichen Erhöhen ihrer Wirksamkeit setzt seitens der Führungskräfte ein gewandeltes Selbstverständnis und Verhalten auf drei Ebenen voraus:
- Selbstführung und -entwicklung
- Mitarbeiterführung und -entwicklung und
- Teamführung und -entwicklung.
Ebene 1: Selbstführung und -entwicklung
Im Kontakt mit Führungskräften stellt man oft fest: Sie stellen an ihre Mitarbeiter Forderungen, die sie selbst nur bedingt erfüllen. Eine dieser Forderungen lautet: Die Mitarbeiter sollen ihre Arbeit effektiv und zielführend organisieren – so dass möglichst wenig Zeit und Geld verschwendet wird. Eine weitere Forderung lautet: Die Mitarbeiter sollen sich als Lernende verstehen und regelmäßig reflektieren, inwieweit ihr Vorgehen und Verhalten (noch) zielführend ist. Analysiert man jedoch das Verhalten der Führungskräfte, dann registriert man oft: Ihre eigene Fähigkeit und Bereitschaft, ihr Verhalten zu reflektieren und optimieren, ist eher gering ausgeprägt. Nur selten stellen sie sich Fragen wie: »Trage ich mit meinem Verhalten dazu bei, dass meine Mitarbeiter
- nicht das gewünschte Arbeitsverhalten zeigen,
- recht unselbstständig agieren,
- bei ihrer Arbeit nicht die übergeordneten Ziele vor Augen haben,
- permanent Aufgaben an mich rückdelegieren
- und, und, und ...?«
Eine zentrale Ursache hierfür ist: Viele Führungskräfte fordern zwar von ihren Mitarbeitern, bei Bedarf Denk- und Verhaltensroutinen über Bord zu werfen, sie selbst verstehen sich aber nicht als Lernende, die ihr Verhalten und Wirken reflektieren und optimieren müssen. Dabei wäre dies nicht nur nötig, um die eigene Performance zu erhöhen, sondern auch um das entsprechende Verhalten bei den Mitarbeitern auszulösen. Denn Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion für ihre Mitarbeiter.
Die Fähigkeit zur Selbstreflektion, die wiederum die Voraussetzung für eine Selbstführung und gezielte Selbstentwicklung ist, wird künftig eine Voraussetzung für erfolgreiche Führung sein. Denn wenn sich die Rahmenbedingungen von Führung schneller ändern, müssen sich auch die Führungskräfte häufiger fragen:
- Erziele ich mit meinem Verhalten noch die gewünschte Wirkung? Und:
- Ist eine Einstellungs- und Verhaltensänderung nötig, um meine Wirksamkeit – also die Relation von investierter Zeit und Energie und erzielter Wirkung – als Führungskraft zu erhöhen?
Denn sonst können Führungskräfte ihr Verhalten nicht steuern. Also geraten sie, da sich die Rahmenbedingungen und somit Anforderungen an sie ändern, immer wieder in Situationen, in denen sie an ihre (Belastungs-)Grenzen stoßen – jedoch weniger aufgrund der zu bewältigenden Führungsarbeit, sondern weil ihr Verhalten nicht mehr den Rahmenbedingungen entspricht.
Ebene 2: Mitarbeiterführung und -entwicklung
Führung ist ein Prozess, der sich zwischen Menschen vollzieht. Daraus folgt: Wenn sich die Mitarbeiter ändern, dann muss sich auch Führung wandeln. Dasselbe gilt, wenn sich die Arbeitsstrukturen und somit Arbeitsbeziehungen ändern. Auch dann muss sich Führung wandeln. Das ist vielen Führungskräften nicht bewusst. Viele haben zum Beispiel noch nicht ausreichend verinnerlicht, dass sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die Lebensstile der Menschen in unserer Gesellschaft stark ausdifferenziert haben. Das heißt: Ihnen sind im Leben und somit auch bei der Arbeit unterschiedliche Dinge wichtig. Zudem akzeptieren sie nicht mehr fraglos Autoritäten, die sie nicht selbst gewählt haben. Gerade hochqualifizierte und entsprechend selbstbewusste Mitarbeiter befolgen nicht mehr blind die Anweisungen von Vorgesetzten. Sie hinterfragen vielmehr mehr oder minder offen deren Anordnungen und Entscheidungen. Zumindest wollen sie eine plausible Erklärung haben, warum aus deren Warte gewisse Dinge nötig sind.
Für die Führungskräfte bedeutet dies: Sie müssen mehr und anders als früher mit ihren Mitarbeitern kommunizieren. Statt einem Erteilen von Anweisungen top-down ist heute ein Einbeziehen der Mitarbeiter in die Entscheidungsprozesse angesagt. Und wenn dies nicht möglich ist? Dann müssen die Führungskräfte zumindest akzeptieren, dass ihre Mitarbeiter außer ihren Entscheidungen auch ihr Verhalten hinterfragen – ebenso wie sie dies häufig bei ihren Mitarbeitern tun.
Ein verändertes Führungsverhalten ist auch nötig, weil eine zentrale Forderung an die Mitarbeiter lautet: Sie sollen ihre Aufgaben weitgehend eigenständig und -verantwortlich erfüllen. Das setzt voraus, dass die Führungskräfte ihren Mitarbeitern die nötigen Entscheidungs- und Handlungsspielräume gewähren; des Weiteren, dass sie die Kompetenz der Mitarbeiter entwickeln, diese professionell zu nutzen. Denn nur dann können sie im Betriebsalltag stets komplexere Aufgaben zu einer weitgehend eigenständigen Bearbeitung an ihre Mitarbeiter delegieren – was zu einer Entlastung der Führungskräfte führt.
Und die gewonnene Zeit? Diese sollten die Führungskräfte für ein sinnstiftendes Kontrollieren und Feedback-geben nutzen. Denn sogar gute Mitarbeiter leiden heute häufig darunter, dass sie abends oder am Monatsende nicht wissen, welchen Beitrag sie tagsüber oder im Verlauf des Monats zum Erreichen der Ziele des Unternehmens geleistet haben. Diesen Sinn-Zusammenhang über die reinen Zahlen hinaus ihren Mitarbeitern zu vermitteln, ist heute ebenfalls eine Führungsaufgabe.
Ebene 3: Teamführung und -entwicklung
Je flacher die Hierarchie in einem Unternehmen ist und je vernetzter, zum Beispiel aufgrund der Komplexität der Aufgaben, die Strukturen in ihm sind, umso stärker wird die Leistung im Team erbringt. Das heißt: Die einzelnen Mitarbeiter sind beim Erledigen ihrer Aufgaben auf die Kooperation mit und Zuarbeit von Kollegen angewiesen. Und: Je besser die Zusammenarbeit funktioniert, umso höher ist die (gemeinsame) Performance. Also lautet eine zentrale Aufgabe von Führung nicht nur die einzelnen Mitarbeiter zu entwickeln, sondern auch die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Teamarbeit funktioniert.
Eine Grundvoraussetzung hierfür ist, dass die Führungskraft mit den Mitarbeitern, gerade weil diese so verschieden sind, eine gemeinsame Vision entwickelt,
- welche Ziele bei der Arbeit zu erreichen sind und
- von welchen Maximen und Wertmaßstäben sie sich bei der (Zusammen-)Arbeit leiten lassen.
Denn nur dann können die Mitarbeiter ihre Aktivitäten so aufeinander abstimmen, dass die übergeordneten Unternehmensziele erreicht werden.
Eine zentrale Aufgabe von Führung ist es auch, im Betriebsalltag Foren und Systeme zu schaffen, die sicherstellen, dass die Mitarbeiter gemeinsam ihre (Zusammen-)Arbeit reflektieren, um Optimierungsmöglichkeiten zu identifizieren. Denn nur dann kann das Streben nach Verbesserung als stabiler Prozess in ihrem Bereich verankert werden, so dass sich das Team allmählich zu einem High-Performance-Team entwickelt, das nach kontinuierlicher Verbesserung strebt – und zwar weitgehend eigenständig, was auch die Führungskraft entlastet.
Entwickelt sich ein Team in diese Richtung, dann kann sich die Führungskraft statt mit routinemäßig wiederkehrenden Aufgaben im Betriebsalltag zunehmend mit Fragen befassen, die den Bereich und das Unternehmen mittel- und langfristig nach vorne bringen. Das heißt wiederum: Statt Managementaufgaben und solch klassischen Führungsaufgaben wie Anweisen und Kontrollieren nimmt die Führungskraft zunehmend Leadership-Aufgaben wahr.
Zum Autor: Klaus Kissel ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales- und Managementberatung, Urbar.
In unserer Reihe »Standpunkte« bieten wir von Zeit zu Zeit engagierten Akteuren aus den Bereichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Wissensmanagement die Möglichkeit, sich mit einem aktuellen Thema an unsere Leser zu wenden. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt weisen wir darauf hin, dass diese Artikel ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben und nicht zwangsläufig mit der Auffassung der Redaktion in Einklang zu bringen sind.
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